Ricarda Roggans Bilder sind menschenleer. Dennoch haben an den von ihr aufgenommenen Orten zumindest zeitweilig Menschen gewirkt, die ihre Spuren hinterlassen haben. Offensichtlich existieren Besitzer der aufgestapelten und verpackten „Interieurs“, die den Dingen in Jahren des Gebrauchs ihre Persönlichkeit aufgeprägt haben. Diese „Zeichen“, die auf den Bildern auf ihre Eigentümer verweisen, zu deuten, scheint im Kontext der Ausstellung die erste Reaktion des Betrachters zu sein.

Auf den ersten Blick erscheint die dargestellte Situation in „Das Zimmer I“ durch und durch „realistisch“. Es ist denkbar, daß sich in irgendeinem „Souterrain“ dieser Anblick wirklich bietet, daß es also, wie man der Fotografie schlechthin zu unterstellen bereit ist, eine Vorlage in der Wirklichkeit gibt. Vordergründig betrachtet, scheinen die Fotos Ricarda Roggans – ähnlich denjenigen von Frank Müller – eine Geschichte zu erzählen, tatsächlich wird sie aber vom Betrachter um das unwirtliche Zwischenlager einer Person herum konstruiert, eines Menschen, der mit seinen Dingen in dem lichtlosen Keller- oder Fabrikraum Unterschlupf gefunden hat. Neben den spärlichen Gegenständen einer Notunterkunft, einer dünnen Matratze mit einer Decke, eines einzigen Sessels, der auf einen billigen Fernseher hin ausgerichtet ist, zeigt sich im Hintergrund ein Tischchen mit verschiedenen persönlichen Gegenständen, einem gerahmten Bildchen, ein paar Büchern, einem kleinen Radio. Diese persönlichen Habseligkeiten und ein Koffer mit ein paar heraushängenden Kleidungsstücken geben zwar kein konkretes Bild einer Person, aber sie verweisen auf ihr Dagewesen-Sein zu einem früheren Zeitpunkt. Ihre Absenz ist präsent.

Daß es sich unweigerlich um eine Konstruktion handeln muß, wird spätestens mit Blick auf das Bild „Zimmer II“ deutlich. Wer immer sich bereits auf den Pfad einer „authentischen“ Spurensicherung begeben hat, wird enttäuscht. Denn hier finden sich in identischer Ordnung dieselben Gegenstände in einer veränderten Raumsituation. Den unterschiedlichen Farben der Wände und des Fußbodens im Raum gelingt es, bei gleichbleibendem Inventar den Stimmungswert der inszenierten Situation zu verändern. Darauf basiert der Irritationseffekt, und wir erfassen die Wiederholung zeitverzögert erst beim zweiten Blick.

Dieselben Gegenstände werden hier zu Hauptakteuren auf einer guckgastenartigen Bildbühne. Dieser Eindruck wird durch die Abgeschlossenheit des Raumes betont, der keinerlei Beziehung zur Außenwelt unterhält. Die Fenster sind mit Farbe überstrichen, es gibt keinen Ausblick aus diesem Raum, der sich jedoch selbst wie ein „Fenster“ dem Betrachter hin öffnet. Einziger Verbindungspunkt zu einer Welt außerhalb des monadischen „Souterrain“ ist die an der geschlossenen Türe befestigte Luftaufnahme einer unbekannten Stadt. Ihr Anblick muß jeden Ausblick ersetzen. Indem beide Bilder derart den Wunsch auf einen Ausblick thematisieren, steigern sie das Gefühl des Eingeschlossen- und Gefangenseins in einer „fensterlosen Monade“.

Roggans Fotografien von Räumen erweisen sich als „fake“, sie halten konstruierte, eigens für die Fotografie gebaute Innenräume fest. Das dokumentarische Paradigma einer Bestandsaufnahme, mit deren Motiven wie Begrifflichkeiten sie in ihren Fotografien und deren Titeln spielt, läßt sie somit hinter sich.

Auch die von Roggan mit „Interieur“ betitelten Fotografien zeigen nicht, was ihr Titel erwarten läßt. Dargestellt sind nicht Innenräume, sondern die Gegenstände, die einen Innenraum möblieren. Sie zeigt zusammengerückte aufeinandergestapelte Möbel, die scheinbar zwischengelagert werden. Die Gegenstände sind ihrer ursprünglichen Funktion entfremdet und so aufeinander und ineinander gestapelt, daß sie eine skulpturale Qualität erlangen. Fünf verschiedene Hausstände, so könnte man vermuten, deren Besitzer jedoch ungenannt bleiben. Arbeiten, die an historischen Rekonstruktionen von Biographien interessiert sind, stellen und beantworten die Frage nach Besitzerverhältnissen und Ordnung, so etwa „InventARISIERT“, 2000 von Arno Gisinger. Als großflächige Fotoinstallation zeigt das Werk die im Mobiliendepot eingelagerten Möbelstücke von acht erhaltenen jüdischen Haushalten und verweist explizit auf diese Herkunft. Dem Interieur sind Inventarlisten assoziiert, die gemeinsam mit den Adressen der Familien ausgestellt sind. (1)

Roggan verzichtet auf derartige Kontextinformationen; die Objekte entziehen sich mithin einer konkreten Erzählaussage. Statt zum Teil einer narrativen Dokumentation zu werden, gelangen die Gegenstände zu einer ästhetischen Existenz.
Die Möbelstapel werden von einer durchsichtigen, reflektierenden Folie umfaßt und gleichzeitig hermetisch abgeschlossen. Dies geschieht in Analogie zur fotografischen Technik, die ihren Gegenstand unter einer glänzenden Oberfläche versiegelt. Diese Isolation von ihrem Umraum wird durch die computerbearbeiteten schwarzen Hintergründe verstärkt, die die Gegenstände wie Kostbarkeiten aus dem diffusen Dunkel herausstrahlen lassen und Erinnerungen an niederländische Stilleben des 17. Jahrhunderts wachrufen.

Der Titel der Arbeit „Interieur“ verweist auf die kunsthistorische Tradition einer Bildgattung. In den Innenraumdarstellungen wurden die Dinge und Gegenstände häufig mit Bedeutung aufgeladen und nahmen nicht selten Porträtfunktion an, indem sie ihre Eigentümer charakterisierten. Die Gegenstände wurden für komplexe Symbolisierungsprozesse genutzt, deren Dechiffrierung dem Betrachter ein intellektuelles Vergnügen bereiten sollte. Im Gegensatz dazu stellen Roggans Interieurs ihre Bedeutung zwar heraus, jede endgültige Deutung wird dem Betrachter aber verweigert.

Auch in ihren jüngst entstandenen Bildern der Serie „Souterrain“ zeigt Roggan „Inventare“ – wie auch der ursprüngliche Titel der Arbeit lautet . Das Schema einer Bestandsaufnahme greift sie auch in ihren Bildtiteln wieder auf: „Vier Stühle, Tisch und Bank“, „Zwei Stühle, Tisch und Bett“. Roggan verwendet in leerstehenden Wohnungen zurückgelassene, Gebrauchsspuren tragende Möbel, die sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausnimmt und isoliert in lichtlosen, zellenartigen Kulissen inszeniert. Auch hier sind wie in allen ihren Bildern Menschen abwesend und dennoch durch die abgenutzten Möbelstücke in ihrer Abwesenheit präsent. Es handelt sich um anonyme Gebrauchsmöbel; sie haben keine uns bekannten Biographien wie etwa „prominente“ Möbel, deren Geschichten durch Provenienznachweise zu rekonstruieren wären.
Während die ersten beiden Fotografien der Serie noch mit der Möglichkeit spielen, ein Abbild wirklicher Räume zu sein, werden in den letzten Aufnahmen die Arrangements soweit reduziert, daß sie nicht mehr als „realistische“ Wiedergabe gedeutet werden können. Der Lichtkegel, der in „Vier Stühle, Tisch und Bank II“ von dem Tisch ausgeht, unterstreicht die geisterhafte Wirkung der kargen Szene.

Ist der Betrachter aufgerufen, sich in die Interieurs hineinzuversetzen, um die leeren Plätze mit Personen zu besetzen? Der legendäre Anfang der Gedächtniskunst legt diese Möglichkeit nahe: Der Sänger Simonides von Keos versucht, als einziger Überlebender einer Katastrophe sich all die Menschen ins Gedächtnis zu rufen, die mit ihm soeben gespeist haben. Hierzu vergegenwärtigt er sich die Tafelordnung des eingestürzten Hauses, die er in Gedanken abschreitet. Die Rhetorik führt auf diese Meisterleistung des Erinnerns ihre Technik zurück, Reden anhand von „topoi“ oder „loci“ zu memorieren. Die Mnemotechnik schafft so einen Erinnerungsraum, der imaginär abgeschritten werden kann. Räume gelten seitdem als materialisiertes Gedächtnis. Nicolas Pethes hat jüngst die These vertreten, diese historisch wie metaphorisch so evidente Verknüpfung von Erinnerung und Raum sei so wirkungsmächtig, daß Räumen unweigerlich eine mnemotechnische Ordnung unterstellt werde: „Topographien, Stadtanlagen oder Gedächtnisorte, aber auch archivarische Organisationsformen werden ohne Umstände als ,mnemotechnisch‘ verstanden und durch das entsprechende rhetorische Schema funktional als erfolgreiche Gedächtnisleistung beschrieben.“ (2)
Was wird erinnert? Wäre das die richtige Frage, die an Roggans Inventare und Interieurs zu richten ist? Gibt es einen Plan, der den Aufbau der Räume bestimmt hat? Handelt es sich womöglich um Gedächtnisräume, deren Schlüssel die Mnemotechnik liefern kann?

Daß es auch in ihren Fotografien eine Ordnung gebe, deren Schema außerhalb des Bildes zu suchen sei, hat Ricarda Roggan selbst angedeutet. Die „Raumidee“ ihrer Arrangements gehe auf vorgefundene Konzepte zurück, beispielsweise eine Fotografie, eine Filmszene, eine Erzählung oder eine „situation trouvée“. Die Vorlagen für ihre Raumideen bleiben jedoch unbenannt. Die reflexartige Unterstellung einer „archivarischen Organisationsform“ des Raums und seiner Gegenstände wird so einerseits provoziert und bleibt andererseits doch ohne Bestätigung. Derartig zurückgeworfen auf ein Diesseits der Inventare, rückt die Form der Interieurs selbst in den Vordergrund: Die Leere der menschlichen Behausung und die Isoliertheit der Möbelstücke erzeugen eine merkwürdige Kälte und unheimliche, bedrohliche Atmosphäre. Das Bild gewinnt surreale Eigenschaften. Die Gegenstände gelangen zu einer Präsenz, die sie ihrer eigenen Strahlkraft verdanken. Das Foto wird so zu einem Raum, der die Dinge von ihrer funktionalen Ein- oder Unterordnung befreit. Es kommt nicht auf die Referenz der Dinge an, sondern auf das Verhältnis, das die einzelnen Möbelstücke zueinander unterhalten. Ihre Relationen erzeugen einen Raum, der zwischen ihnen und um sie her sichtbar wird. Auch dieser Raum verdankt sich keiner externen Ordnung, er wird vom Mobiliar aus dem Innen des Bildes heraus erzeugt. Was die Fotografin darstellt, sind Unorte oder, wie man mit Michel Foucault sagen könnte, „Andere Räume“.

inventARISIERT. Enteignung von Möbeln aus jüdischem Besitz, Ausst.-Kat., Museum Kaiserliches Hofmobiliendepot, Wien 2000.

Nicolas Pethes, „Die Geburt der Mnemotechnik aus dem Zusammenbruch der Architektur. Karriere und Grenzen einer Gedächtnismetapher“, in: Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung, hrsg. v. G. Oesterle und H. Tausch, Göttingen 2003.