In Fortführung und Erweiterung ihrer Serie Baumstücke wendet sich Ricarda Roggan mit ihren neuen Arbeiten, zusammengefaßt zu einer dreiteiligen Werkgruppe unter dem Titel natura nova, einem klassischen Sujet der Bildenden Kunst zu – der Landschaftsdarstellung. Aber schon bei oberflächlicher Betrachtung wird klar, daß solch vorschnelle kunsthistorische Verortung nicht weit trägt. Weder von Landschaft im traditionellen Sinn noch von Darstellung kann hier die Rede sein; treffender wäre wohl, diese Fotografien mit Rekurs auf Alexander von Humboldts berühmtes Werk als Ansichten der Natur zu begreifen. In der Konzentration auf einzelne Naturphänomene – Wolkenbildungen, Gesteinsformationen, Vegetationsstrukturen –, die aus ihrem ›natürlichen‹ (das heißt: landschaftlichen) Sinnzusammenhang vorsichtig herausgelöst werden, zeigt sich ein gleichermaßen ästhetisches wie naturwissenschaftliches oder, genauer noch, naturphilosophisches Interesse. Im Mittelpunkt aller Bilder steht nicht ein einzelnes, isolierbares Objekt, sondern stets ein Gefüge, innerhalb dessen die Erscheinung auf ihre eigentümliche Beschaffenheit, ihre spezifische Organisation und Organizität hin betrachtet wird. Dieser auf sinnliche Wahrnehmung, aisthesis, gegründete gleichsam protowissenschaftliche Blick knüpft an eine Zeit an, der die innere Ordnung der Natur sich noch nicht vollends abgelöst hatte von ihrer ästhetisch vermittelten äußeren Erscheinung. Erst im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem rasanten technischen Fortschritt und der Etablierung der modernen Naturwissenschaften – unter tätiger Mitwirkung der Fotografie – vollzog sich endgültig die strikte Trennung von wissenschaftlicher und ästhetischer Naturbeschreibung, die eine Vorgehensweise wie diejenige Ricarda Roggans aus heutiger, nicht nur naturwissenschaftlicher Sicht als anachronistisch erscheinen läßt. Aber dieser vermeintliche Rückschritt ist vielmehr ein Rückgang. Er versucht, die eingespielte Arbeitsteilung von Naturwissenschaft und Kunst zu durchbrechen, die in der eigennützigen Beherrschung ihres Gegenstandes stillschweigend übereinkommen, um ihn als Mittel für ihre Zwecke zu gebrauchen.

Ricarda Roggan begibt sich mit den Mitteln der Kunst dahin zurück, wo Wissenschaft einmal begonnen hat: beim Staunen über die Formenvielfalt der Natur, die sich plötzlich nicht mehr von selbst verstand, sondern einer menschlichen Ordnung zu bedürfen schien. Dieses anfängliche Staunen darüber, wie etwas aussieht, wie es beschaffen ist und wie es sich darbietet, ist noch zu spüren im hinwendenden Blick der Künstlerin zum einzelnen Objekt, dessen besondere und absonderliche, nicht taxierbare Eigentümlichkeit – oder Eigenwilligkeit – sich schematisierender Typologisierung entzieht. Doch ist dieser Blick getrübt: durch die Erfahrung und das Wissen, daß es kein unmittelbares »Zurück zu den Sachen«, keinen unschuldigen Blick auf sie mehr gibt, so wenig wie ein schuldloses »Zurück zur Natur«. Deren Versehrtheit im Zeitalter ihrer fortlaufenden Zerstörung klingt hier zwar nur von ferne an, ist aber dennoch in jedem Bild präsent, allein schon durch die fotografisch-apparative Zurichtung des Objekts, die selbst ein Equivalent der Zurichtung der Natur durch die verschiedenen – industriellen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen – Apparate ist. Zumal im Blick in die Wolken und auf sie artikuliert sich die Absage an jede romantizistische Verklärung von Natur, sei es nun im Idyllischen oder Ruinösen. Und nur im Blick auf die Wolken, auf das Enthobene und Entzogene schlechthin, scheint eine solche Absage überhaupt noch sinnvoll möglich. Die Verklärung der Natur reduziert sich hier auf die Verunklärung (Trübung) des Himmels in Gestalt der jeder haltbaren Ordnung entbehrenden, fluiden Wolkengebilde, durch die das erscheinende Licht – Quintessenz der Fotografie – sichtbar wird erst in seiner ätherischen Verschleierung.

»Neu« im landläufigen Sinne des Worts ist diese »natura nova« gerade nicht – neu ist vielleicht nur das Zurückgehen auf einen älteren Begriff von Natur, der sie noch nicht im Griff hat und in ihr die Ordnung sucht, der er sich selbst verdankt. Dem archäologischen Ansatz, der Ricarda Roggans Arbeit seit ihrer ersten Serie Stuhl, Tisch und Bett kennzeichnet, bleibt sie auch hier treu, indem sie ihn auf das anwendet, was man fahrlässig und generalisierend als »Natur« bezeichnet, bloß weil es nicht von Menschenhand gemacht ist. In diesen Bilder gibt sich zu erkennen, daß Natur eine Geschichte hat, die nicht von den vermeintlich für sie zuständigen Wissenschaften geschrieben wird, sondern sich erst im tief in sie eingesenkten menschlichen Blick offenbart, wenn sie, subjektlos, die Augen öffnet und zurückschaut.