Reliquien, 1) überhaupt Ueberreste, Ueberbleibsel;

2) Ueberreste von Heiligen, entweder Theile ihres Körpers oder auch von Dingen, von welchen sie Gebrauch machten, oder mit welchen sie in Verbindung standen.

Es ist ein sehr natürliches Gefühl, die Ueberreste von verdienten Personen mit einer Art von Ehrfurcht zu betrachten; und wenn es ungezweifelte Ueberreste von Heiligen gäbe, und diese Heiligen wirklich große Verdienste um die Menschheit gehabt hätten, und ihre Geschichte nicht mit Fabeln beladen wäre, würde es wohl niemand tadeln, wenn gefühlvolle Menschen ihre Ueberreste mit Sorgfalt aufbewahrten, – verweilt man doch so gern bey den Gräbern berühmter Männer und wünscht, ein Andenken von ihnen zu haben. Allein, wie es gewöhnlich, oder doch oft mit den Reliquien geht, muß man die Leichtgläubigkeit bemitleiden, die vor jedem Knochen niederfällt, der diesem oder jenem Heiligen zugeschrieben wird; weiß man doch, daß die Päbste an den Gebeinen der großen Begräbnißhöhlen bey Rom einen unerschöpflichen Schatz von Reliquien hatten, die sie unter diesen und jenen Nahmen verschenkten, und die man mit der größten Ehrfurcht anzunehmen gewohnt war. […] Wie weit die fromme Einfalt hier und da wohl ging, läßt sich daraus abnehmen, daß Göcking [sic!], wenn vielleicht auch nur im Scherze, schreiben konnte:

Drauf ging der Prior weiter

Und zeigte uns ein Stückchen von der Leiter,

Die Jakob einst im Traum gesehn.

 

Heinrich Gustav Flörke (Hrsg.), D. Johann Georg Krünitz’s oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunstgeschichte, in alphabetischer Ordnung, Bd. 122, Berlin 1813, S. 547

Im ersten Teil, den Einführenden Bemerkungen, wurde, ausgehend von der Fotografie zweier Splitter aus Johann Sebastian Bachs mutmaßlichem Sarg, die von der Historiographie minutiös rekonstruierte Geschichte um die Suche nach Bachs Gebeinen, ihre wundersame Wiederauffindung, Bergung und endliche Heimholung an ihren heutigen Ort in der Thomaskirche als verdeckte Heiligenlegende interpretiert, die sich in das ehrwürdige Narrativ der Legende vom Künstler (1) ein- und dieses fortschreibt. Dabei wurden die Parallelen zum katholischen Reliquienkult herausgearbeitet, der, so die These, in profanierter Form (oder gar eher noch als eine Art von Synkretismus) in der Praxis der Musealisierung bzw. Archivierung solcher Gegenstände und Relikte fortbesteht, die durch die Hand des Künstlers, aus dessen Besitz sie stammen oder mit dem sie auf eine bestimmte, meist körperliche Weise verbunden gewesen waren, gleichsam geheiligt wurden. (2) Darauf, daß es sich dabei um mehr als nur eine Analogie handelt, sondern vielmehr ein genetischer Zusammenhang besteht, deutet das vorangestellte Zitat aus Krünitz’ Encyklopädie hin. Historisch steht es an jenem Punkt, da auch in Deutschland der Transformationsprozeß der Figur des Autors vom schriftstellernden Höfling zum freien Schriftsteller als autonomes bürgerliches Künstlersubjekt im wesentlichen vollzogen ist. Auffällig an dem Lexikoneintrag ist nicht nur die protestantische Invektive gegen katholischen Leicht- und Aberglauben, die in der Ironie des Goeckingk-Zitats terminiert, sondern die Bedeutungsverschiebung, die der Begriff der Reliquie hier erfahren hat. Der für sie konstitutive Aspekt des Heilsversprechens ist ganz entfallen; an seine Stelle ist allein das „Andenken“ an eine „verdiente Person“ getreten. In solcher Verschiebung stellt sich die Privatisierung einer zwar vergessenen, doch untergründig weiter wirkmächtigen sakralen Praxis dar, die sich in der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft der allgemeinen Tendenz der Verlagerung – man könnte auch sagen: Deregulierung – von vormals kollektiv verbindlichen Glaubenspraktiken in den bzw. im privaten Raum einreiht. Die Bedeutungsverschiebung des Reliquienbegriffs bei Krünitz läßt sich lesen als später Nachhall einer grundsätzlichen Veränderung der Form der Einstellung zu Tod und Sterben, die sich seit dem 17. Jahrhundert vollzogen hat. Aus den vielfältigen historischen Formen des memento mori, eines im Kern zwar je individuell vollzogenen, jedoch kollektiv verankerten und in Hinblick auf seinen Gegenstand überindividuellen Eingedenkens – der Meditation über die Todesverfallenheit des sündigen Menschen und die Hoffnung auf (die eigene) Errettung zum ewigen Leben – schält sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die modernere des Andenkens heraus, die, zwar ebenso individuell vollzogen, sich im Gegensatz zum memento mori jedoch auf eine einzelne, konkrete Person bezieht und die, wie Philippe Ariès in einem kurzen Exkurs zum Sepulkralschmuck ausführt, im Verlauf des 19. Jahrhunderts im – auch schon zu Lebzeiten weitergegebenen – „Souvenir“ gipfelt: „Im neunzehnten Jahrhundert verschwindet nun ihrerseits die Darstellung des Grabes, die mehr als ein Jahrhundert lang üblich war. Das Schmuckstück wird zum einfachen Medaillon, das sehr oft ein Porträt enthält und immer ein oder zwei Haarlocken. Wenn nur eine Locke darin ist, ist es die eines geliebten Wesens, das noch lebt oder tot ist. Wenn zwei Locken darin sind, dann ist ihre Vereinigung das Symbol der Verbundenheit zweier Wesen, die sich im Leben und über den Tod hinaus lieben. Die Haare dienen auch zur Herstellung von Armbändern und Ringen [vgl. Uhlands Uhrkette, S.82]. Das Haar für sich allein ist zur Erinnerungsstütze geworden.“ (3) – Nicht allein zur Stütze der Erinnerung, ist hinzufügen, sondern gleichsam zu ihrem Rückgrat, der körperlichen Essenz (Substanz) des Andenkens an die geliebte Person. Dem sich anschließenden Fazit von Ariès, daß am Ende dieser Entwicklung der Tod selbst „wie ausgelöscht“ und er, in Gestalt eines „unverwesliche[n] Fragment[s]“ zum „Stellvertreter des Leibes“ „verblaßt“ sei (4), kann höchstens auf diagnostischer Ebene zugestimmt werden, zeigt sich doch im Privatraum dieser Verschiebung hin auf die konkrete, individuelle Person und deren Relikte, die von der Ausnahme zur Regel wird, jene schwindende Bindekraft des tradierten Glaubens, der sich nicht zuletzt, sondern zuallererst am Skandalon des Todes zu bewähren und zu bewahrheiten hat und der, obwohl – und gerade weil – das angegriffene Christentum im Zeitalter von Aufklärung und Verbürgerlichung seine absolute Normativität weiter behauptet, in andere Formen mäandriert. (5)

Das Bild der Toten und das tote Bild

Das (körperlich gefaßte) Andenken läßt sich als ein Indiz nachlassender und – gerade daher – desto mehr beschworener Glaubenskraft lesen. Es soll, unverweslich, aber eben nicht unvergänglich, einstehen dafür, daß das Erhoffte, doch vom Zweifel Angekränkelte – die Wiedervereinigung mit dem geliebten Wesen in Gott und in Ewigkeit – dennoch dereinst eintreten wird. In Gestalt der Haarlocke, als privatistische Verfallsform der Reliquie, hat sich deren ursprünglicher intentionaler Gehalt in sein Gegenteil verkehrt: Historisch stand das körperliche Relikt aus Haut und Haar für die Auferstehung des Fleisches ein, wie der Heilige selbst dafür mit Haut und Haar eingestanden war; nun dient das, was bei Krünitz nur mehr als „Andenken“ firmiert, eher als eine Behauptung gegen die kalte Evidenz des Todes und gegen den namentlich im Protestantismus ausgehöhlten Glauben an die christliche Doktrin von der Auferstehung des Fleisches, gleichsam als eine Art Abwehrfetisch. Als solcher ist das als Andenken aufbewahrte Körperfragment von vorübergehend oder dauerhaft Abwesenden dann auch immer mehr aus der Mode gekommen. Es wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts sukzessive durch die massentauglich gewordene Fotografie ersetzt. Für eine Übergangszeit fanden beide Formen des Andenkens an den Abwesenden noch einmal einen gemeinsamen Nenner in einer genuin fotografischen Form des bürgerlichen Totenkults, dem Sonderfall der – als kulturelle Praxis im wesentlichen auf das letzte Drittel des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts beschränkten – Totenfotografie (6), in welcher sich zugleich die Absetzbewegung von der den Toten vertretenden, ihn „überlebenden“ „Körperreliquie“ anzeigt, an deren Stelle nun nicht das Bildnis des Abwesenden als Symbol tritt (wie bei den beliebten Medaillons der ersten Jahrhunderthälfte, wo die Ähnlichkeitsbeziehung zugunsten der symbolischen Repräsentanz zurückstand, jedoch, wie es sich in der liebenden „Vereinigung“ zweier Locken zeigt, eine auf einen offenen Horizont – nämlich die als möglich gedachte reale Wiedervereinigung – gerichtete ‚Sympathie‘ die symbolische Verbindung herstellen und erhalten sollte), sondern das fotografische Abbild den Toten in Form einer letzten „Spur“, eines letzten Indizes seiner gewesenen Lebendigkeit endgültig fixiert. So exakt die Wiedergabe des fotografischen Abbildes, so gestört war doch zugleich die auf mimetischer Sympathie (Korrespondenz) beruhende Ähnlichkeitsbeziehung infolge der Entstellung durch die Totenstarre: Die Verbindung zum Leben ist hier absolut gekappt. Die Fotografie eines Toten ist im Wortsinn unsympathisch. In ihr wird das Faktum des Todes ein weiteres Mal besiegelt und der Tote, als Toter, auf ewig stillgestellt – ohne Ewigkeit. Die Idee der Auferstehung scheint nirgendwo brutaler, hoffnungsloser aus dem Relikt gewesenen Lebens getilgt. Aber gerade hier nähert sich die Totenfotografie der Körperreliquie wieder an, denn nirgendwo ist die Fotografie – bei aller Genauigkeit der Aufzeichnung – weniger Abbild und deutlicher Spur. Sie ist hier kein „Objekt der Melancholie“, (7) kein memento mori (und nur am Rande, mit den Worten von Ariès, ein memento illius (8)), sondern der harte Kern des erstarrten Seins. Auch die Körperreliquie – ein Stück toten Leibes – steht nicht mehr in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu ihrem einst beseelten Körper (der, als „leibseelische Einheit“, gerade diese Trennung von sich und seiner Seele nicht zuläßt) – selbst wenn sie noch als Körperteil erkennbar ist. Anders als es ein belebter Leib je sein kann, ist sie ungestalt. Das uralte, unbewältigte Grauen vor dem „schwarzen Todesverhängnis“, gegen das das Christentum den Glauben an die Auferstehung des Fleisches aufgerichtet hatte, speist sich aus dem unerträglichen Schweigen, der „Antwortlosigkeit“ des Toten: daß hier keiner mehr spricht. Der Totalschaden des Todes ist nur zu bannen, wenn das, worin er sich so buchstäblich wie widersinnig inkarniert, dem Leben zurückgegeben wird. Ein Geist, wie ‚groß‘ er auch sein mag, bleibt nur jener blasse Schatten des lebendigen Menschen, der den Hades der griechischen Vorstellungswelt bevölkerte. Der Blutdurst der Toten, wie etwa im XI. Gesang der Odyssee, verweist auf diese offene Wunde, die nur geschlossen würde, wo aus dem Blut, Saft des Lebens, der Leib wiedererwüchse. Odysseus kann an der Pforte zur Unterwelt den Seher Teiresias um lebensnotwendigen Rat befragen nur, weil er zuvor zwei Schafe geschlachtet hat. Die Rede des Toten speist sich aus dem Blut des Opfertiers. Die Blutschuld, die dem Opfer verschrieben ist (und der es sich verschreibt), löst dem Toten die Zunge: belebt ihn nicht, sondern macht ihn nur gesprächig. Er fragt nicht nach Antwort. Die stimmlose Stimme der Toten steht im Zeichen der Schuld, wie der Tod selbst auch und gerade in christlicher Perspektive die Schuld schlechthin ist und zugleich deren diesseitige Abdingung: „Denn der Sünde Sold ist der Tod.“ (9) Sobald ein lebendiger Mensch auf die Seite des Todes gewechselt ist, ist die Verbindung zu ihm abgerissen – er antwortet nicht mehr. Mit den Toten mag vielleicht kommuniziert werden können (sie mögen reden, schwatzen, murmeln, womöglich weissagen), doch nicht gesprochen, denn sie haben keine Stimme. Nur sie, die antwortende, (kor-)respondierende Stimme eines lebendigen, atmenden Menschen ist es (sein „Hauch“: genau so ist Goethes so oft mißbrauchtes Bilde Künstler! Rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht! (10) zu verstehen), die die Verbindung halten kann selbst über den Tod hinaus – in der Kunst und im Gedächtnis. In der Totenfotografie ist sie, mehr noch als in der Fotografie sonst üblich, nicht bloß verstummt, sondern erloschen, als hätte es sie nie gegeben. (Es war nicht zuletzt ihre entsetzliche Sprachlosigkeit, mit der die frühe Fotografie ihre Zeitgenossen so sehr verunsicherte.) Wie die Körperreliquien ohne die in ihnen gebundene Glaubensvorstellung (das in ihnen sich inkarnierende Heilsversprechen) nur mehr das sind, als was sie bei Krünitz an erster Stelle bezeichnet werden, nämlich lediglich „Ueberreste, Ueberbleibsel“ ohne Gnadengrund (die es nicht geben dürfte, damit die Toten Ruhe finden), so ist das stimmlose, gnadenlose Bild, wie es sich in der Totenfotografie als Inbegriff des „anthropologisch neuen“ Bildes (11) namens Fotografie am ausgeprägtesten verkörpert, buchstäblich ein überstehendes Nichts, ein sistiertes (fixiertes, feststehendes), aber dennoch weiter sistierendes Ek-Sistierendes („Herausstehendes“), das – wie das Tote selbst – sowohl „da“ ist wie auch nicht da ist, ein wesenloses An-Wesen in wesentlicher Abwesenheit: ein ‚unmöglicher‘ Überstand. Dieses Unmögliche steht in jeder Fotografie ‚über‘ (aus ihr hervor). Nur selten zeigt es sich so deutlich wie in der Totenfotografie, und das mag einer der Gründe sein (neben der Pathologisierung des Todes selbst, seiner Verschiebung aus dem Häuslichen ins Klinische), warum dieser Form der fotografischen Praxis ein vergleichsweise kurzes Leben beschieden war.

Die Totenfotografie markiert einen vorläufigen Endpunkt in der Geschichte der Profanisierung bzw. Privatisierung ehemals kollektiv gebundener Glaubenspraktiken, deren wichtiger Katalysator bis weit in die Reformation hinein der Reliquienkult gewesen war, der in etwa zur gleichen Zeit, im frühen Hochmittelalter, Breitenwirksamkeit zu entfalten begann, als auch der Vanitas-Gedanke und das mit diesem eng verknüpfte memento mori an Bedeutung gewannen. Weder dieses noch jenes sind als Totenkulte im engeren Sinn zu verstehen. Zwar war die Vorstellung vom Tod bestimmend, doch stand sie klar in eschatologischer Perspektive, der Fixierung auf die Errettung zum ewigen Leben. Kurz gesagt, es ging nicht um die Versöhnung der Toten, sondern um Entsühnung vom Tode. Etwa ab dem 17. Jahrhundert (das, Achim Landwehr zufolge, eine Zeitenwende einläutet (12), mit der anhebt, was man Die Moderne nennen kann) vollzieht sich jene sich immer weiter sich verstärkende Verschiebung vom memento mori hin zu dem, was Philippe Ariès als memento illius bezeichnet: vom Eingedenken zum Andenken. Die überzeitliche Perspektive bricht zunehmend weg und die Zeit als offener Horizont ins Diesseits ein. Der Tod verliert nicht seinen Schrecken, aber seine vom Christentum so scharf gezeichneten Konturen. An die Stelle der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bilder vom Tod, der alle gleichmacht, treten in der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft die Bilder von individuellen Toten – und von Lebenden, deren Abwesenheit als ähnlich schmerzvoll erfahren wird –, sei es nun als gemaltes Porträt, als Zeichnung, Scherenschnitt, Büste, Medaillon, als auch in Form von Vorstellungsbildern, die der „Erinnerungsstütze“ bedürfen bzw., wie im Fall der prominenten Haarlocken, als körperliche „Ueberbleibsel“, die Vorstellungsbilder evozieren sollen. Die Fixierung richtet sich immer weniger auf ein immer unbestimmbarer werdendes Seelenheil, sondern auf einen konkreten Menschen, mit dem sich bestimmte, von ihm individualisierte („auratisierte“) Gegenstände verbinden, die, in moderner Terminologie, Fetischcharakter annehmen können. Da das Bild noch vergleichsweise rar ist – alle erwähnten Formen setzen trotz wachsenden Angebots einen gewissen Herstellungsaufwand voraus und sind daher mehr oder weniger exklusiv –, können mit der betreffenden Person verbundene Objekte, an die sich Erinnerungen heften, solche Repräsentations- und Imaginationsfunktion leichter übernehmen. Jedoch dürfte das nicht in erster Linie eine ökonomische Frage gewesen sein. Denn die Gabe einer Locke, die nicht mehr kostet, als eben die Bereitschaft, sie herzugeben, ist nicht nur ein liebes Andenken, sondern ein symbolischer Akt im Ursinn des Wortes, der darauf abzielt, das (Ab-)Getrennte wieder zusammenzuführen, um die überzeitliche – nicht intergenerationale aber interpersonale – Bindung zu besiegeln. In der schwärmerischen Ausdrucksweise der Romantik: Das in der Zeit Getrennte in der Ewigkeit wieder zu vereinen. Gleiches gilt, mit Einschränkung, für das Geschenk eines Seidenbandes, Handschuhs oder Armreifens – Dinge, die durch dauerhafte Berührung eines geliebten Wesens kostbar oder gar unersetzlich geworden sind und den „Hauch“ der geliebten Person gleichsam in sich aufgenommen haben. (Das ist das Motiv von Goethes Es war ein König in Thule.) Bei solchen Objekten handelte es sich um Reliquien zweiter Klasse, die jedoch ebenso, wie die Locke, hochgradig auratisiert sein können – wenn auch für niemand anderen als die jeweilige(n) Person(en) allein, mithin zur Gänze privat. Diese Dinge sind daher völlig ahistorisch – wie es auch die Reliquien sind, deren ihnen zugeschriebene virtus nicht von dieser Welt ist –; sie haben keine weitere Geschichte, als die, die in ihnen verschlossen liegt und deren mögliche Weitergabe, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sich mit dem für immer verschlossenen Mund ihrer Träger ein für allemal erledigt hat. Anders steht es um jene Dinge, die zu ihrer virtus – der mit dem Geist ihrer Eigentümer assoziierten Aura – gekommen sind wie die Jungfrau zum Kinde (oder Pontius Pilatus ins Credo). Uhlands Taufzeug dürfte kaum deswegen aufbewahrt und weitergegeben worden sein, weil dem Kind an der Wiege gesungen worden ist (und zwar vernehmlich!), daß aus ihm dereinst ein großer Dichter werden würde. In Zeiten, da selbst in den besseren Kreisen ein – gemessen an heutigen Zuständen – eklatanter Mangel herrschte, war solches „Zeug“, weit mehr als ein Ding unter Dingen, schlicht zu kostbar, um es dem Lauf alles Irdischen zu überlassen. Wie die Geschichte um das Jean Paul zugeschriebene Silberbesteck zeigt – der Legende nach nichts Bedeutenderes als ein Hochzeitsgeschenk an seinen Bruder –, haben zunächst die Dinge für sich überdauert, bis ihre Geschichte zu ihnen gefunden und sie eingeholt, sie zu sich heimgeholt hat. Die Legende vom Künstler mußte sich dafür schon so weit etabliert haben, daß die Dinge postum (bezogen auf sie selbst, nicht auf ihre einstigen Besitzer) zum Behälter oder corpus ihrer imaginierten virtus werden konnten. (Das Muster dieser Legendenbildung ähnelt demjenigen der Entstehung der Heiligen- und Märtyrerlegenden, die nach einer längeren Lücke in der – eher spärlichen – Überlieferung, nach mehrhundertjähriger Inkubationszeit gleichsam, auf einmal wild ins Kraut schießen.) Indem die Geschichte, die nun nicht mehr ihre Geschichte ist, sondern die eines anderen – des sie besitzenden Geistes, aus dem sich ihre virtus speist –, in sie eintritt, treten sie zugleich aus der Geschichte aus, die nun über sie hinweggeht, als wäre seitdem nichts mehr geschehen. (Weil sie unter ihr stehen, ohne ihr zu unterstehen, sollen sie die Geschichte, den „Lauf der Welt“ überstehen: so der Gedanke.) Mit ihrer Überführung ins Archiv – die Grabkammer der Artefakte, den Sarkophag der Vitrine – werden sie stillgestellt. Sie stehen still: bis zu jenem Zeitpunkt, der nicht eintreten soll, da der in ihnen „an-wesende“ Geist sich aus ihnen vollends verflüchtigt hat und sie wieder zu bloßem Zeug geworden sind, oder aber bis zu jenem jenseits der Zeit gedachten Zeitpunkt (der auch nicht eintreten soll), da jener Geist – und zwar nicht der alte des Heilsversprechens der Reliquie, sondern der noch immer nicht ganz erloschene des im Kunstwerk versenkten Glücksversprechens – seine Knochen wieder mit dem lebendigen Fleisch bekleidet und in dieses Kleid, das ungeschieden zugleich Außen und Innen, Wesen und Erscheinung, Form und Stoff ist, ganz eingeht (sich darin ganz „aufhebt“). – Bis dahin stehen sie still, das heißt: Sie stehen in der Stille. Ihr Schicksal ist es, keines haben zu dürfen. Weder sind sie „da“, noch sind sie nicht „da“; sie existieren, doch ohne Existenz (ohne Überstand, ohne „surplus“). Dieses Schicksal, das keines ist (wie die Stimme der Toten keine Stimme ist), teilen sie mit der fotografischen Seinsweise, in der (oder als die) sie selbst erscheinen. (Ob auch in diesen oder als diese ‚ihre‘ Fotografien, ist eine andere Frage, deren Beantwortung verschoben werden muß.) Die Fotografie – und es ist völlig unerheblich, ob ihre Fotografie oder irgendeine beliebige – entnimmt ihren Gegenstand der Geschichte. Er geht, mit seiner ‚Entnahme‘ aus deren Raum und der Aufnahme ins „Paradies der Dinge“ (13) (das eher ein limbischer Hades als ein Paradies ist: ein tiefenloser Vor- oder Warteraum, ausgeleuchtet, aber nicht erhellt vom immer gleichen schattenlosen Licht) in die fotografische Seinsweise über. In der modernisierten Höhle herrscht der „reine Geist“, die fixe Idee des fixen eidos. Indem die fotografische Fest-Stellung die Dinge, sie fixierend, ‚sichert‘ (wie eine Waffe gesichert wird – ein Akt der Vorsicht oder eher noch ein abergläubischer Akt), nimmt sie ihnen vor dem Übertritt ihre Ambiguität, Unentschiedenheit, die Möglichkeit, von sich aus loszugehen. Was häufig übersehen wird: daß das Medium, in dessen Bildern Geschichte sich wie von selbst schreibt – und zwar sowohl ante als auch post factum  – selbst der Geschichte, die es selber nicht ist, aber auf die es beständig übergreift, unterliegt. Fotografien mögen einst „Beweisstücke im historischen Prozeß“ (14) gewesen sein; keinesfalls aber sind sie welche für ihn  – gerade das Gegenteil könnte statthaben. Unbenommen, daß die Fotografie, jenes menschenferne Unbild in Menschenhand, selber historisiert wird: als ein Fall für die Kultur-, Kunst-, Medien-, Sozial- und sonstige Geschichte. Doch die Geschichte, die sie schreibt – vielmehr: die sie diktiert –, ist eine mit den Mitteln der Technik geschriebene Naturgeschichte, in deren „Wiederschrift“ sich diese – und das ist das Fatale – wie blind wiederholt.

Wenn die Fotografie, frei nach Benjamin, ein Mittel sei, um das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen (das als verschlossenes Kontinuum das Verhängnis selber ist), so sind jene arretierten, vom Fotografischen her gedachten „Einsprengsel“ der messianischen Zeit in die geschichtliche doch keine der Fülle als möglicher Erfüllung (durch die der Messias zu jeder und keiner Zeit in die Geschichte einbrechen, sie von innen sprengen, den Vorhang zerreißen könnte), sondern solche der völligen Leere und Abwesenheit: der eines – wenn so etwas denkbar wäre – erstarrten Nichts, das nur an diesem hauchdünnen, unvorstellbaren Punkt mit der Fülle, dem erfüllten Sein zusammenkäme. In einer jeden Fotografie ist auf einen absolut zufälligen, in seiner totalen Willkür verstörenden Punkt gebracht, was nicht hat sein dürfen – nicht nur das, „was gewesen ist“, sondern vor allem das, was hätte sein können. Und das heißt, unterm Aspekt der Fülle, wenn auch nicht notwendig der Erfüllung (denn Erfüllung ist niemals notwendig): Was hätte sein sollen. Jene „Lücke“ ist ein Fehler, eine Fehlstelle, aus der stumm das Fehlende und das Gefehlte (das, was ‚gefehlt‘ hat im Doppelsinn des Wortes) heraustritt, ohne die Mauer der Sprachlosigkeit, die das fotografische Bild selber ist, durchbrechen zu können. Nirgendwo spricht sich dies deutlicher aus als in der Totenfotografie. Daß sie so klanglos von der Bildfläche verschwand, mag man fast ihrem Erschrecken über die eigene Offenbarung zuschreiben. Das totenstille, im erstarrten Nichts ausharrende Bild wurde historisch abgelöst durch das scheinhaft lebendige, in dem die stillgestellte Bewegung des Lebendigen über die Totenstille des Bildes hinweghilft (oder hinwegtäuscht). Die Faszination, die die frühe Fotografie ausgelöst hatte – wie jede Faszination eine Melange aus (Zurück-)Schrecken und wehrloser Hingabe –, jene Faszination, die sich ihrem unmöglichen Stehen verdankte, das das Studium noch der feinsten, unscheinbarsten und randständigsten Details ermöglichte und in dem zugleich eine zutiefst unheimliche Präsenz hauste, welche die das Bild verschließende Fläche – seit der Renaissance dessen absolute Grenze – gleichsam „durchsengte“ war womöglich von den faszinierten Zeitgenossen selbst schwer zu ertragen gewesen. (Eine Fotografie von Charles Nègre um die Jahrhundertmitte zeigt drei Halbwüchsige in (von heute aus gesehen) eigentümlich anmutender, Bewegung simulierender Pose, anscheinend bemüht, ihre apparativ noch nicht mögliche fotografische Stillstellung vorwegzunehmen.) Der Übergang zur Momentfotografie muß nicht nur als technischer Befreiungsschlag erlebt worden sein. In ihr wird, nochmals mit einer Formulierung Benjamins aus anderem Zusammenhang, das Tote zur Ähnlichkeit entstellt (17)(das heißt: zum Mimetischen) und das fotografische Abbild dem Leben (wenn auch einem höchst scheinhaften) zurückgegeben. Leben, Bewegung, dringt ins Bild ein und übersetzt das Unheimliche ins Scheinvertraute. Der privatistische Totenkult in Gestalt der Totenfotografie – Objektivierung eines dem Medium selbst inhärierenden, unbegriffenen Zaubers –, in der das christliche memento mori, ausgehärtet zur nackten Tatsache des punctum mortis, ein letztes Mal von ferne anklingt, geht nicht zuletzt zugrunde an einer gewandelten fotografischen Praxis, die sich mit der Stille des Stillstands nicht mehr verträgt.

Die Lust am Text

Als „Ueberrest“ jenes persönlichen memento illius oder Andenkens, das als Haarlocke seinen Anfang nahm, in der die profanierte Körperreliquie fortlebte, kann das fotografische Freundesbild gelten, das sich seinerseits als eine ins Persönliche zurückübersetzte Form der fotografischen carte-de-visite (18) verstehen läßt, wie sie sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute und die in der Gegenwart – als sogenanntes Profil – wiederauferstanden ist, um den persönlichen Tauschwert in den sozialen Netzwerken zu erhöhen. Da das eigene fotografische Abbild heute nicht mehr in derselben Weise als Teil der eigenen Person begriffen wird, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war, ist uns der Gedanke fremd geworden, daß ein Bild von sich fortzugeben bedeuten könnte, einen Teil seiner selbst den Händen eines anderen zu überlassen – und je „persönlicher“, das heißt: sowohl im Ausdruck intimer wie in der Abbildung unnachgiebiger solche Fotografien, desto stärker dürfte ein derartiges Empfinden gewesen sein. Wenn der junge Proust einem Freund im Tausch ein Bild von sich überreicht und es mit einer handschriftlichen Widmung versieht, so ist diese Geste des Vertrauens von einem Liebesbeweis nicht mehr weit entfernt. Im Gegensatz zum damals Beschenkten dürfte sich (mutmaßlich) die Nachwelt heute weniger für das Bild und mehr für die rückseitige autographische Zueignung interessieren – scheint doch in den Schwüngen der Handschrift, in der Spur ihrer Einschreibung, der Prägung des charaktér, der künftige Großschriftsteller schon ganz „da“ zu sein. Aus der Schrift, mehr noch als aus dem Wortlaut des Geschriebenen, spricht nicht mehr nur der Autor, sondern schon die Anwesenheit seines Leibes selbst; dessen Bewegung in der Geste dringt gleichsam durch die Zeichnung hindurch. Darin lebt der Autor fort, über seinen Tod hinaus. Die Handschrift gilt, in höherem Maße noch als die (im übertragenen Sinne) als solche bezeichnete „Handschrift“ in der Bildenden Kunst, als Inbegriff, Inbild von Individualität. Zwar ist dieser Glaube ohne Zweifel auch der Mythologisierung (und Fetischisierung) der Figur des Künstler-Autoren geschuldet, der ihrerseits die Ontologisierung der Schrift(spur) zur Seite springt, doch gilt umgekehrt nicht weniger, daß erst in der Handschrift – gleich, wie gepflegt oder verwildert, wie diszipliniert oder nachlässig sie ist – der Autor sinnlich-sinnenfällig wirklich wird in seiner ganzen Verstrickung in den Text, der in der Handschrift, aus der Handschrift, hervorlugt als ihr Subtext. Das Werk ist in der Handschrift anwesend. Sie autorisiert den Text – doch das ist nicht ihr Zweck. Handschriften ohne „Text“ (das heißt: ohne künstlerische oder wissenschaftliche Autorität zu reklamieren) autorisieren nichts, weil es nichts zu autorisieren gibt; dennoch werden sie als Imperative einer Autorität gelesen (gesehen), sobald sie sich einem Autor zuschreiben lassen. Der Autor, der aus dem Text hervorgeht – hervorsteht –, ist in der Schrift, seiner Schrift immer schon „da“. Nur in der Schrift und nicht im Text tritt der Autor hervor. Vielmehr tritt im Text ein anderer Autor hervor als in der Schrift – einer, der in und hinter seinen Text zurücktritt. Denn die Handschrift ist nicht in der Weise sein Text, wie der Text es ist: Er besitzt sie nicht, sondern sie ihn. Er kommt, je mehr er ist, was er ist – Autor –, desto weniger gegen sie an – so wenig wie gegen die widerspenstigen Locken. Er mag sein Haar zu zähmen versuchen (wie seine Hand) – beide werden, nach ihrem Strich, ihm gegen den Strich gehen (und er wird es wahrscheinlich nicht einmal bemerken). In der Handschrift ist der Text in den Leib des Autors zurückgekehrt, der Geist Fleisch geworden: ist der Text sich selbst entsprungen – doch nur, weil das Entsprungene dem, dem es entsprang, zuvor unterlag (ihm unterlegen war und ihm sich unterlegte). Die Grundlage entbindet sich von sich selbst. In Gestalt der leibhaftigen Handschrift ist der Text – das falsche Phantom des „reinen Geistes“ – so sehr durchtränkt vom Leiblichen, daß er, vom Textlichen befreit, wieder in den Text zurückkehren kann (als Der-der-er-ist zu Dem-der-er-nicht-ist – und dies nur, weil er Der-ist-der-er-ist), wie der barmherzige Bodhisattva in den sterblichen, leidensfähigen menschlichen Leib. Das ist „Die Lust am Text.“ – Die Jakobsleiter gehört nicht zum Himmel und nicht zur Erde – sie steht dazwischen.

Vgl. Ernst Kris u. Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt/M. 1995 [1980].

Falk Haberkorn, Beweisaufnahmen. Einführende Bemerkungen zu Ricarda Roggans „Apokryphen“, in: Ricarda Roggan, Apokryphen (Begleitbuch zur Ausstellung), Leipzig 2014.

Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 2015 [1982], S.587.

Ebd.

Namentlich die deutsche (Früh-)Romantik (inklusive ihres den „bestirnten Himmel“ der Aufklärung weithin überstrahlenden Hofes), die den eigentümlichen Fall einer zugleich rückwärtsgewandten, retrospektiven und hochgradig projektiven, weit über sich hinausgreifenden Bewegung darstellt (deren Leichnam dann von der bürgerlichen Kultur nach Strich und Faden gefleddert wird) kann, einschließlich all ihrer nihilistischen Tendenzen, als ein einziger, zwar nicht breitenwirksamer, aber auf lange Sicht desto wirkmächtigerer Versuch einer solchen synkretistischen Synthese zerfallender Glaubensgewißheiten aufgefaßt werden.

Einschlägiges Standardwerk hierzu: Katharina Sykora, Die Tode der Fotografie. [Bd. 1] Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, Paderborn 2009, insbes. Kap. 2.

Susan Sontag, Objekte der Melancholie, in: dies., Über Fotografie, Frankfurt/M. 1996 [1980], S.53–83.

Für das 18. Jahrhundert registriert Ariès mit der sich verändernden Einstellung zum Grab bzw. zur Grabstätte auch eine Verschiebung der individuellen Einstellung im Verhältnis zum Tod: vom mittelalterlichen memento mori (der konkreten, erinnernden Mahnung an die eigene Vergänglichkeit) hin zum modernen memento illius (dem allgemeineren Angedenken an ein je konkretes Vergangenes). Die mit hygienischen Erfordernissen begründete Verlagerung der Begräbnisorte aus dem innerstädtischen Raum an dessen Ränder kann daher als ‚Verdrängung‘ gelesen werden, die Verschiebung als Abschiebung. Sich an der Gegenwart der Toten zu stören, heißt auch, die (für den mittelalterlichen Menschen noch alltägliche) Präsenz des Todes als verstörend zu empfinden und auszublenden, so daß das zum Denkmal gewandelte Grabmal, das man „wie einen lebenden Freund auf dem Lande besucht“ („comme on visite un ami vivant à la campagne“), sich gleichsam als Plombe des darin versiegelten memento mori zu erkennen gibt (Philippe Ariès, L’homme devant la mort, Paris 1977, S.170).

Röm 6,23

Erich Trunz (Hrsg.), Goethes Werke. Gedichte und Epen, Bd. 1, München 1982, S.325.

Roland Barthes, Über Fotografie. Interview mit Angelo Schwarz (1977) und Guy Mandery (1979), in: Herta Wolf (Hrsg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt/M. 2002, S.85.

Achim Landwehr, Die Geburt der Gegenwart, Frankfurt/M. 2014.

Falk Haberkorn, „Das Paradies der Dinge“, in: Ricarda Roggan, Stuhl, Tisch und Bett (Ausst.-Kat), Leipzig 2003

So Walter Benjamins berühmte Charakterisierung von Eugène Atgets Fotografien aus dem Paris des Fin de siècle. (Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Dritte Fassung], in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt/M. 1991, S.485.)

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, a.a.O. S.701 ff.

Benjamin spricht vom „Bildcharakter“ – womit er noch einen Schritt weitergeht, heißt dies doch, daß dieses neue, ungebildete, charakterlose Bild gar kein Bild ist, kein charaktér, das heißt: ohne menschliche Prägung – also ohne das, was bisher jedes Bild gekennzeichnet hatte, – vielmehr etwas, das nun selbst auf verstörend-betörende Weise prägen würde. (Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S.371.)

Im Original heißt es: „Ich aber bin entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist.“ – Der Autor schildert eine Kindheitsszene „beim Photographen“, wo er sich zum objektivierenden Bild stellen soll und es nicht vermag: „Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte.“ (Walter Benjamin, „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, S.261.) Die fotografische Aufnahme, der Augenblick der Fixierung, wird aus Sicht des Kindes als Entstellung (Entfremdung) erlebt, während aus der Perspektive des Erzählers das Kind bereits von einer Ähnlichkeit entstellt ist, von der es selbst noch kein Wissen hat – nämlich von der Ähnlichkeit mit dem, was Benjamin anderenorts die „Stoffwelt“ nennt, in die das Kind „ganz eingeschlossen“ ist. Die Entstellung in der „Stoffwelt“ ist die von Ähnlichkeit mit ihr: „Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten.“ (Walter Benjamin, „Einbahnstraße“, a.a.O. S.116.) Entstellt zu sein von Ähnlichkeit mit der „Stoffwelt“ – den vermeintlich leblosen Dingen, die das Kind in mimetischer Anverwandlung zum Leben erweckt –, ist jene Grenze, die es ihm verunmöglicht, „mit sich selbst“ ähnlich zu werden in der Fotografie, deren Identitätsfixierung das Kind im Augenblick der Aufnahme antizipiert. In Rede stehen hier also zwei verschiedene Formen von „Ähnlichkeit“: zum einen die mimetische, aus der erfahrenen Differenz zur Dingwelt heraus ihr sich einschmiegende, zum anderen die den Dingen gleich einer Haut abgezogene, sie verdinglichende fotografische, die auf reine Identität zielt. Als „rein“ identische aber ist Ähnlichkeit schon keine mehr: Nichtidentität wäre ihre Bedingung. Daher ist das mimetisch hochbegabte Kind so ratlos, wenn Ähnlichkeit von ihm verlangt wird. Es kann diese Ähnlichkeit nicht nachvollziehen, da es in Korrespondenz mit der „Stoffwelt“ sich selbst immer schon als nichtidentisch erfährt. – Wenn obige Passage Benjamins Formulierung dergestalt abwandelt, daß die Fotografie das Tote zur Ähnlichkeit entstellt, zum scheinhaften Bild, so ist diese Ähnlichkeit tatsächlich als Entstellung im Wortsinn zu begreifen, denn anders denn als „ähnlich“ können wir Fotografien gar nicht auffassen: Allein aufgrund unseres mimetischen Vermögens sind wir überhaupt fähig, eine Fotografie als Bild zu erkennen. Doch dieses ohne menschliches Zutun, ohne jeden mimetischen Anteil entstandene Bild ist ab ovo ein totes Bild. Deshalb gibt es keine Ähnlichkeit mit Fotografien und keine ähnlichen Fotografien. Was mangels besserer Begriffe als „Ähnlichkeit“ bezeichnet wird, ist der Versuch, in ihrer Perzeption ihnen „ähnlich“ und, in der Konsequenz, ihnen gleich zu werden: „Mimesis ans Tote“. Das Tote aber läßt sich, was Sinn aller mimetischen Anverwandlung ist, nicht animieren. Seine scheinhafte Verlebendigung im scheinhaften Bild entstellt es zu phantasmagorischer Ähnlichkeit in derselben Weise wie die spiritistische Séance das Phantasma des beschworenen Geistes zur Ähnlichkeit mit den Lebenden.

Auch als photo-carte de visite, portrait carte-de-visite oder photo-carte bezeichnet.