„Sechs Schritte von der Thüre“

Wer heute Bachs Grab sehen will, begibt sich selbstverständlich in die Thomaskirche zu Leipzig. Vor hundert Jahren hätte er eine Gruft in der Leipziger Johanniskirche aufsuchen müssen, und noch einmal hundert Jahre zuvor wäre er auf dem Johannisfriedhof, wo Bach irgendwo begraben lag, kaum fündig geworden, es sei denn, er hätte das Glück gehabt, sich das unmarkierte Grab von Bachs damals noch lebender, 1818 verstorbener jüngster Tochter zeigen lassen zu können. Daß es heute überhaupt wieder eine auffindbare Grabstätte des Komponisten gibt, ist keineswegs selbstverständlich und mehr oder weniger glücklichen Umständen geschuldet.

Es war bekanntlich Felix Mendelssohn-Bartholdy gewesen, der Bachs nahezu vergessenes Werk wiederentdeckt und wiederbelebt hatte. 1843, in dem Jahr, als das von ihm gestiftete erste („alte“) Bachdenkmal eingeweiht wurde, galt Bachs Grabstelle bereits als unauffindbar. Erst fünfzig Jahre später, 1894, im Zuge des anstehenden Neubaus der Johanniskirche, unternahm man (nun desto ernsthaftere) Anstrengungen, des verlorenen Grabes habhaft zu werden. Eine Kommission wurde ins Leben gerufen, der neben dem Leiter des Vereins für die Geschichte Leipzigs, einem angesehenen Leipziger Philologen, Historiker und Archivar, ein nicht weniger namhafter Schweizer Professor der Anatomie sowie ein ebenfalls in Leipzig ansässiger Bildhauer angehörten, dem später, wegen seiner Verdienste um Bachs Wiederherstellung, die Ausführung des „Neuen Bachdenkmals“ vor der Thomaskirche übertragen wurde.

Die Informationslage war zunächst ausgesprochen dürftig; der einzige Anhaltspunkt beschränkte sich auf den Hinweis eines in der Überlieferung namenlos gebliebenen, aber seinerzeit anscheinend „allbekannten“ Lokalhistorikers und Mitarbeiters der Leipziger Zeitung, der dort schon 1885 hatte verlauten lassen, daß ihm, dem „Correspondenten“ des Blatts, „vor länger als fünfzig Jahren [also noch vor 1845] ein über achtzig Jahre zählender Leipziger Einwohner, ein Gärtner, an Ort und Stelle genau den Platz gezeigt [habe], wo Bach’s Gebeine ruhen.“ Derselbe befinde sich „dem südlichen Eingange zur Kirche gegenüber, in einer Entfernung von etwa sechs Schritten“. Trotz deutlicher Zweifel des amtlich bestellten Fachhistorikers an der Plausibilität dieser Geschichte, die er für „ungeschickt erfunden“ hielt, begann man, am bezeichneten Ort zu graben und stieß dort tatsächlich auf die Überreste mehrerer Särge, darunter, neben solchen aus Kiefer, auch von dreien aus Eichenholz. Da aus einer erhalten gebliebenen Rechnung zu Bachs Beerdigung zweifelsfrei hervorging, daß der Komponist in einem Eichensarg bestattet worden war, glaubte man sich auf der richtigen Spur. Die Skelettreste aus einem der Särge wiesen dem Anatomen zufolge ferner darauf hin, daß sie „einem älteren, keineswegs sehr grossen, aber wohlgebauten Manne“ zuzuordnen seien. Eine vergleichende phrenologische Analyse sollte weitere Klarheit verschaffen. Vom Schädelfragment wurde ein Abguß angefertigt, worauf der Bildhauer daranging, „über dem Schädelabgusse, unter strenger Innehaltung eines für die Gesichtsoberfläche anatomisch festgestellten Systems von Punkten, die charakteristisch portraitähnliche Büste von Joh. Seb. Bach zu formen“. Im Ergebnis der Rekonstruktionsversuche sah man sich zu dem Befund ermutigt, daß die „Uebereinstimmung zwischen den wesentlichen Eigenschaften des Schädels und denen der Bilder“ – gemeint sind die erhaltenen Darstellungen Bachs, vor allem das berühmteste, als authentisch geltende Porträt von Elias Gottlob Haußmann im heutigen Bach-Museum in Leipzig – „entscheidend festgestellt“ sei. Und so verkündete die Kommission am 8.  März 1895 ihr einhelliges „Schlussurtheil“: „Die Annahme, dass die am 22. October 1894 an der Johannis-Kirche in einem eichenen Sarge aufgefundenen Gebeine eines älteren Mannes die Gebeine von Johann Sebastian Bach seien, ist in hohem Grade wahrscheinlich.“

Damit hatte die Geschichte um Bachs Bergung jedoch noch nicht ihr Ende gefunden. Am 16. Juli 1900 wurden seine mutmaßlichen Gebeine „in einem einen Zinksarg umschließenden Sarkophag“ in einer Gruft der neu aufgebauten Johanniskirche beigesetzt. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude, diesmal durch Fremdeinwirkung, stark beschädigt; Bachs letzte Ruhestätte blieb einige Jahre verschüttet. Erst am 28. Juli 1949 konnten Bachs Gebeine aus den Ruinen der Johanniskirche in die Thomaskirche überführt werden. Während ihrer Zwischenlagerung in der Sakristei – wo sie bis zur Schließung des Sargdeckels am 13. August 1949 Tag und Nacht von Gemeindemitgliedern bewacht worden seien – bot sich die Gelegenheit neuerlicher Inspektion, die vom Leipziger Chirurgieprofessor Wolfgang Rosenthal besorgt wurde. Er habe „mehrere für Organisten typische Veränderungen am Skelett“ festgestellt, was die Vermutung untermauerte, es mit den Überbleibseln des echten Bach zu tun zu haben. Am 28. Juli 1950, Bachs 200. Todestag, wurden seine Gebeine unter den zum Chorraum führenden Stufen feierlich bestattet. Infolge von Rekonstruktionsarbeiten am Gebäude zwischen 1961 und 1964 wurde das Grab ein weiteres Mal verlegt, diesmal jedoch nur um einige Meter in den Chorraum, an die Stelle, wo es noch heute zu besichtigen ist. (1)

Das leere Grab

Die Geschichte von Bachs „Heimholung“ ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Zunächst, weil sie selbst einen Indizienprozeß rekonstruiert, in dessen Verlauf aus wenigen Anhaltspunkten Identität (re-) konstruiert wird, ferner weil sie – mit allen dem wissenschaftlichen Apparat zur Verfügung stehenden Mitteln – recherchiert worden ist, um die einzelnen Stationen jener Identitätsprüfung zugleich zu beglaubigen wie auch historisch-kritisch zu begleiten, zuletzt aber, weil sie überhaupt erzählt wird: ihres Gegenstands wegen sowohl erzählungswürdig als auch erzählungsbedürftig ist. Wie seine Gebeine ohne Bach nichts wären, wäre auch diese Geschichte nichts ohne Bach, weil sie nicht hätte geschehen und also auch nicht hätte erzählt werden können. Höchstens hätte sie erfunden werden können (oder sogar müssen), wie einst die Heiligenlegenden erfunden werden mußten, um zu beglaubigen, was in ihnen (bzw. durch sie) behauptet wurde. Und wie bei den Heiligenlegenden, deren für das Abendland folgenschwerste das Neue Testament selber mit der Geschichte um die historische Figur Jesus von Nazareth ist, zu dem sich die gesamte Theologie von Augustinus bis Karl Barth und Joseph Ratzinger im Großen ähnlich verhält wie diejenige der „Heimholung“ Bachs (in deren langer Geschichte die erzählte Episode zwar nur ein kleines, aber erhellendes Detail darstellt) zur historischen Figur des Johann Sebastian aus Eisenach im Kleinen, stellt sich auch hier die – ketzerische – Frage: Warum dieser immense Aufwand? – „Was sich erst beweisen lassen muß, ist wenig wert“, heißt es in der Götzen-Dämmerung. (2) Jedoch gilt umgekehrt genauso: Was unter Aufbietung aller Kräfte aufwendig bewiesen werden muß, ist zu viel wert, als daß sein – in der Beweisbedürftigkeit sich anzeigender – denkbarer Verlust nicht die Fundamente erschütterte. Die einfachste Antwort auf die Frage nach der Rechtfertigung des Aufwandes würde lauten: Weil es Bach ist, und im Grunde genommen stellt sie sich gar nicht (oder würde, wenn von Kulturbarbaren gestellt, die sich etwa auch über die öffentliche Subventionierung von Orchestern echauffieren, als blasphemisch empfunden). Bach ist es allemal wert. Doch die Anstrengungen in der Geschichte um Bachs „Heimholung“ drehen sich ja gar nicht um die Pflege des Bach’schen Erbes in der Aufführung seiner Werke, der wissenschaftlichen Aufarbeitung seines Lebens und Wirkens etc., sondern lediglich um die Auffindung, Bergung und Bestattung seiner sterblichen Überreste. Sie sind das letzte und damit verzichtbare Glied in der Kette (daß Mozarts Grab, ganz abgesehen von den Grabstätten so vieler anderer großer Künstler, unauffindbar ist, ändert nichts an Mozarts Bedeutung (3)), aber da, wo die realistische Möglichkeit bestand, der Überreste einer Persönlichkeit vom Kaliber Bachs noch habhaft zu werden, sollte nichts unversucht gelassen werden – obwohl (um es noch einmal zu betonen) es sich eben nur um Knochen handelt, die mit dem unsterblichen Werk ihres sterblichen Eigentümers nichts mehr zu tun zu haben scheinen.

In der Wortwahl zeigt sich das Problem. Diese Knochen ‚gehörten‘ (4) Bach: gehörten sowohl zu ihm, wie sie zugleich auch ‚sein eigen‘ waren, doch nicht wie ein Eigentum, von dem er sich hätte trennen können (noch als Totes bleiben sie unabtrennbar von ihm), sondern eher im Sinne eines Trägers (obschon natürlich streng genommen die Knochen ja ihn trugen), der, was sein eigen ist, als sein Eigenstes, nämlich seinen Leib, trägt (derart, wie eine Frau ihr Kind austrägt) – und zuweilen auch erträgt. Bachs Leib, einem „älteren, keineswegs sehr grossen, aber wohlgebauten Manne“ gehörig, ist in jenen Resten aus dem Sarg immer noch anwesend: ist immer noch da. Und dieser Leib gehörte diesem Manne nicht nur, sondern er war auch dieser Mann, wie dieser Mann zugleich dieser Leib war – wirklich, und das heißt: lebendig waren beide nur als leibseelische Einheit. Wenn etwas die einstige Existenz Bachs beweist, dann seine sterblichen Überreste. Das klingt absurd: Ist denn das Werk selbst nicht Beweis genug? Und wenn das Werk schon nicht (wie im Fall Shakespeares bis heute diskutiert wird) die leibliche Existenz seines Autors „beweist“ – steht denn nicht das Werk selbst unleugbar dafür, daß es einst einen Menschen gegeben hat – er heiße, wie er wolle –, der zu solch übermenschlichem Werk fähig gewesen war? – Nun, das heißt es wohl, aber das beweist eben nichts. Es gibt das Bedürfnis nach Gewißheit, und die letzte und sicherste Gewähr, die Gewißheit schafft, ist die reale, leibliche Existenz des Gewesenen – und sei es auch nur als Gewesenes, also Totes, in seinen wirklichen und damit wahrhaftigen, Wahrheit bezeugenden Überresten.

Das ist noch keine Antwort auf die Frage sowohl nach dem Beweisgrund als auch nach der Beweisbedürftigkeit, die sich in den sterblichen Überresten inkorporiert, aber die Frage weist einen Weg. Es gab nämlich einen bedeutenden Fall, bei dem es sich genau umgekehrt verhielt und gerade die Unauffindbarkeit solcher Überreste die Gewähr der Gewißheit geben sollte – das leere Grab Christi. Daß sein Leichnam am „dritten Tag“ nicht mehr da und das Grab leer war: Das war das Zeichen seiner Auferstehung. Weil aber die Abwesenheit von etwas, die bloße Leere (also nichts) noch nichts beweist, brauchte es das Zeugnis des ungläubigen Thomas, der seinen Finger in die Wunde legte, eine so drastische wie grundlegende Geschichte, die erzählt werden mußte, um das Unglaubliche, die Auferstehung des Fleisches, glaubhaft zu machen. Dieses Unglaubliche ist der Glutkern des Christentums, sein Innerstes. Die einzigartige (5) Vorstellung von der Auferstehung des Fleisches (nicht zwingend aber mehr der Glaube daran) ist bis heute tief im Seelenhaushalt der abendländischen Welt verankert, und war es, bei aller Aufklärung, noch stärker vor hundert Jahren, als man Bachs Gebeine barg. Zu der Zeit aber – und also noch zu Bachs Lebzeiten –, als man Schritt für Schritt daranging, die christlichen Dogmen und mit ihnen die gesamte Lehre immer heftigerer Kritik zu unterziehen bis zum blanken Atheismus, war jenes „Unglaubliche“ schon so sehr zur gleichsam transzendentalen idée fixe geworden, daß Kritik, blind dafür, an diesen wundesten aller Punkte gar nicht vorstoßen konnte. (Im Gegenteil zeugen, am Ende des Jahrhunderts, noch de Sades Schriften davon, welch hochgradige Besetzung der als hoffnungslos sterblich erfahrene Leib in all seiner Verletzlich- und Zerstörbarkeit auf sich zog.) Daß Gott Mensch geworden ist und als ganzer Mensch für die ganze Menschheit an Leib und Seele gelitten hat – der Gedanke der Passion und des göttlichen Opfers – gehört zum unveräußerlichen Kernbestand des Christentums und zeichnet dessen ganze Dialektik von Leibfeindlichkeit und Leibbesessenheit vor: am Leib scheiden sich, buchstäblich, die Geister. Errettung zum ewigen Leben oder ewige Höllenqual werden am Leibe, durch den Leib erfahren. Aber es gab keine Gewißheit, auf welche Seite der auferstandene Leib am jüngsten Tag zu stehen kommen würde – nur die, daß er „zu stehen“ kommen würde, und die Ungewißheit darüber, ob man dereinst verworfen oder auserwählt sei, blieb der Stachel im Fleisch der Hoffnung.

Weil aber einige wenige Menschen, nämlich diejenigen, die man für Heilige hielt, schon zu irdischen Zeiten als Erwählte galten, knüpfte sich Hoffnung gerade an sie als Mittler und Fürsprecher. Insbesondere ihre Gräber waren ein Anziehungspunkt, denn von dort würden sie, die Geretteten, zu Gott auferstehen und mit ihnen, so die Hoffnung, auch alle in ihrer (körperlichen) Nähe. Über den Gräbern wurden Kirchen errichtet, und wenn eine Gemeinde keinen geeigneten Toten in der Nähe hatte, mußte sie sich einen solchen oder wenigstens ein (Körper-)Teil von ihm beschaffen, zur Not auch nur einen Gegenstand (ein Stück Kleidung etc.), mit dem er durch (körperliche) Berührung in Verbindung gestanden hatte und auf den sich etwas von seiner virtus übertragen haben mußte. Da jene als Heilige angesehenen „Ausnahmemenschen“ als Repräsentanten (und somit Garanten) des Heilsversprechens im allgemeinen sowohl wie als individuelle Hoffnungsträger der Errettung jedes Einzelnen im besonderen firmierten, es jedoch weit weniger Heilige als Errettungsbedürftige gab, entwickelte sich zu deren Versorgung im Verlaufe des Mittelalters ein schwunghafter Handel (bei dem die Grenzen zum Raub oft mehr als fließend waren) mit den kostbaren Körperteilen, die zum Kostbarsten überhaupt gehörten (und, aus katholischer Sicht, nach wie vor gehören), was das christliche Abendland sein Eigen nannte. Je kostbarer die Reliquien waren, desto sicherer wurden sie verwahrt, eingefaßt in kunstvolle Reliquiare und deponiert in Schatz- und Heiltumskammern, dem Blick entzogen und nur zu besonderen festlichen Anlässen öffentlich zur Schau gestellt. Sie sind der physisch-metaphysische Unterbau nicht allein der beeindruckendsten Zeugnisse des europäischen Mittelalters, der großen Kathedralen, sondern noch immer Herzstück jedes (katholischen) Kirchengebäudes: bis heute wird keine katholische Kirche ohne eine im Altar eingelassene Reliquie geweiht. (6) Die Reliquie des jeweiligen Heiligen ist der zwar unsichtbare, aber anwesende (und in seiner Anwesenheit auch wirkmächtige) Platzhalter nicht nur des Heiligen selbst, sondern, durch ihn hindurch, seiner erwarteten Auferstehung an Leib und Seele – und mit ihr der aller „in Christus Lebendigen“, seien sie nun bereits gestorben oder noch am Leben. Seine Reliquie ist ein Zeichen und Anzeichen dafür, ein –  höchst unscheinbarer – Vor-Schein des Erwarteten. Sie vereint in sich drei Momente, durch welche sie wirkt: die unbezweifelbare Gewißheit, wirklich vom Heiligen zu stammen (Identität), ihre darauf basierende Kraft (virtus), die in ihr auf magische Weise präsent ist (7) und die Vermittlungsfunktion (Relation), die sie damit übernehmen kann, um durch sich hindurch – gleichsam durchscheinend – Teilhabe zu gewähren an dem, wovon sie selber Teil ist. Sie bindet in sich diese drei Momente zu einer Einheit, die unteilbar ist: Ohne Identität keine virtus, ohne virtus keine Vermittlung. (Und virtus ohne Identität wäre fauler Zauber, also falsche Vermittlung; Vermittlung ohne virtus wäre kraftlos, also leer; Identität ohne virtus wäre falsche Identität und somit ein Irrtum.) Wie weit man eine Reliquie auch in Einzelteile zerlegte – jedes behielte seine Kraft. Noch ein einzelnes Haar hat soviel Hand und Fuß wie Hand und Fuß zusammen haben, und der ganze Leib ist nicht mehr als das kleinste seiner Teile. Da die Reliquie so gesehen unzerstörbar ist, vermag sie in sich das Physische, das stets nur Teil ist, mit dem metaphysischen Ganzen zu verbinden und so die Versöhnung des leidbehafteten Sterblichen mit dem – bzw. hin zum – leidfreien Unsterblichen anzeigend gleichsam vorwegzunehmen. Ihre Existenz kann die individuelle Rettung zum ewigen Leben nicht garantieren – doch sie garantiert, glaubensgemäß, die grundsätzliche Möglichkeit von Rettung und so die Überwindung des Todes überhaupt.

Zwei Holzstücke

Und damit zurück zum toten Bach. Bach war kein Heiliger (und hätte es als Protestant auch kaum werden können). Aber er wird heute von vielen Menschen fast wie ein solcher verehrt, und diese Verehrung, die tatsächlich kryptoreligiöse Züge trägt, war zu der Zeit, als man sich auf die Suche nach Bachs Gebeinen machte, schon kein Novum mehr. Die Geschichte von Bachs „Heimholung“ markiert aber vielleicht gerade jenen historischen Punkt, wo Verehrung in Kult umschlägt. Es ist die Zeit, da die bürgerliche Gesellschaft sich ihrer schwindenden Grundlagen nicht mehr allein in ihren Produkten und Produktionen vergewissert, sondern im Sog der selbstbefeuerten, sich zunehmend beschleunigenden Moderne über jene sich rückzuversichern bemüht ist, um in ihnen sich selbst zu retten. Und Bach ist ein solches Fundament. Ad fontes heißt hier zunächst ganz handfest: zurück zur ersten Ursache, dem Meister selbst. Das Grab ist die Quelle. Und deshalb liest sich die Geschichte der postumen „Wiederherstellung“ Bachs auch beinahe wie eine Heiligenlegende: Von der prophetischen Weissagung des Gärtners und der durch sie inspirierten Suche nach dem Grab über die Auffindung der Gebeine samt der wissenschaftlichen Beglaubigung ihrer vermeintlichen Identität (die an die Stelle der Beglaubigung durchs göttliche Wunder getreten ist), die Bestattung im 150. Todesjahr in der Gruft der Johanniskirche (die einen zweiten Dies natalis zelebriert), den erneuten Entzug der heiligen Gebeine durch göttliche Einwirkung (oder den bösen Widersacher) bis hin zur „berichtigenden“ Überführung des Toten an seinen rechtmäßigen, ihm zubestimmten Platz in der Thomaskirche, die dortige neuerliche Aufbahrung inklusive Totenwache (in der sich sowohl die Furcht vor dem Toten selber verrät als auch die vor seinem Abhandenkommen durch Diebstahl oder wundersame Entrückung) und schließlich die endgültige und rechtmäßige Bestattung am Ort seines Wirkens. Als gloriose Krönung zuletzt die Auferstehung zum ewigen Leben in Gestalt des „Neuen Bachdenkmals“. An letzterem stößt die Analogie an ihre Grenze, weil kein Heiliger bisher auferstanden ist – eben deshalb braucht es ja die Reliquien.

Doch um die Parallele, die sich längst aufgedrängt haben dürfte, noch etwas weiterzuführen: Auch Bach hat seine Reliquien, zumindest dem Anschein nach. Bei den eher unspektakulären Funden aus seinem mutmaßlichem Grab (bzw. demjenigen seiner Frau) handelt es sich um „ein Verschlußblech, einen Fingerring (verschollen), ein Vorhängeschloß und einen Fingerhut“, die „zusammen mit zwei kleinen Eichenholzstücken“ (jenen von Bachs Sarg) „in einem gläsernen Kästchen“ im Leipziger Bach-Museum verwahrt und – mit Ausnahme des 1944 einem Diebstahl zum Opfer gefallenen Rings (8) – zeitweise auch der Öffentlichkeit unter Vitrinenglas präsentiert werden. Allerdings ist man im Museum weit davon entfernt (und wahrscheinlich auch zu protestantisch), sie in der Zurschaustellung noch zusätzlich zu auratisieren. Sie werden nicht anders behandelt als neutralere, unpersönlichere Objekte auch. (Es handelt sich bei ihnen, will man in der Analogie bleiben, jedoch auch nur – mit Ausnahme vielleicht der Holzstücke aus dem Sarg – um Reliquien dritter Klasse, die selbst nur durch Dritte, falls überhaupt, mit dem Verehrten in Berührung gekommen sein dürften). – Es sind nun aber jene „zwei kleinen Eichenholzstücke“ des vermeintlich echten Sargs von Johann Sebastian Bach gewesen, die vor einigen Jahren die wissenschaftliche Rekonstruktion seiner „Heimholung“ mit ausgelöst und, an dieser Stelle, die daran sich anschließende Frage nach den Beweggründen dafür aufgeworfen hatten. Beides, die Herkunftsgeschichte der unscheinbaren Relikte und die Frage, die sie als ausgestellte an sich gestellt sehen, sind in der einfach mit Holzstücke betitelten Fotografie enthalten. Denn zwar schweigen die Dinge, und zwar schweigt das Bild, aber wenn beide einander begegnen: nicht als Bild und nicht als Ding, sondern als jenes eigentümliche Zwitterwesen, das man die Fotografie (oder, mit Roland Barthes’ beschwörender Formel, „die PHOTOGRAPHIE“(9)) nennt, dann tritt das herzu (oder hervor), was Walter Benjamin an gewissen frühen Porträtfotografien des 19. Jahrhunderts ins Auge gestochen war, wo „die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsengt“ habe (10). Solches Herzu- oder Hervortreten ist ein Glücksfall – wenn auch ein provozierter. Er kann dann – vielleicht – eintreten, wenn die fotografierten Dinge nicht mehr als bloße „Referenten“ (11) der Existenz ihrer selbst zu dienen haben, wenn die Fotografie von der „Referentialität“ (d. h. dem Identitätsdenken) so weit wie möglich absieht und stattdessen durch die Dinge gleichsam hindurchsieht – von der anderen Seite durch jenes „Loch“ blickt, das die „Aura“ der Sache (die nichts anderes ist als der Blick der Dinge) im selben Augenblick in den Bildcharakter „sengt“. Wie die Kunst des Malers im Weglassen, besteht die des Fotografen im Liegenlassen. Dieses Liegenlassen (man könnte auch sagen: Seinlassen, Bleibenlassen) der Dinge ist das genaue Gegenteil des Verwerfens – des Liegenlassens dessen, was auf der Strecke blieb und ein Verworfenes wäre. (Und umgekehrt kann der Fotografie jeder verworfene Stein zum Eckstein werden, darauf sie ihr Haus errichtet.) Die Fotografie kann, wenn sie in einem emphatischen Sinn „wahr“ ist (12), die Dinge, die ihr dann keine „Objekte“, „Sachen“, „Gegenstände“ (als etwas ihrer „Sache“ Äußerliches) mehr sind, aufnehmen – sie „aufnehmen“ zu sich, in sich, durch sich und vor allem: als sie selber, nämlich als sie, die Dinge selber und zugleich als sie, die Fotografie selbst – und nur als solche, nur als Fotografie („PHOTOGRAPHIE“) selbst. Die so aufgenommenen Dinge sind „ihre Sache“. Die Fotografie existiert in all ihren konkreten Erscheinungsformen, das heißt den fotografischen Bildern, jeweils nur als die „Sache“, die sie ist (die in  ihr ist), indem sie diese zugleich eben nicht ist – so, wie der Leib Bachs (bzw. dessen Überreste) zugleich „seine Sache“ ist und nicht mehr ist. Die Fotografie, ähnlich wie die frühchristlichen Acheiropoíeta gewissermaßen ein vom Himmel gefallenes, das heißt nicht von Menschenhand gemachtes Bild, (13) kann durch sich (in sich, aus sich) die Dinge als sie selbst, „von sich aus“, anwesend erscheinen machen. Und das kann sie nur, weil ihr Autor (auf technischer und technologischer Ebene) seine Hand nicht im Spiel hat. Er muß aber ein Händchen haben für den richtigen Moment („Moment“ nicht gedacht als Augenblick, sondern als das, was man einst Kairos genannt hatte): den glücklichen Zeitpunkt, den „Glücksfall“ oder, mit einem Begriff Benjamins, der hier nicht fehl am Platz ist, der richtigen „Konstellation“ (14). Das Zutun des Fotografen zu einer solchen Konstellation besteht darin, so wenig wie möglich hinzuzutun, damit sie sich einstellt. (Die Dinge sind scheue Tiere.)

Daß bis heute die dem Wirklichen verpflichtete Fotografie eine schlechte Lobby hat – und noch weniger verstanden wird –, liegt nicht zuletzt daran, daß sie, als „kunstlose Kunst“, ihrer Natur gemäß Autorenschaft zurücknimmt in Rücksichtnahme auf ihre „Sache“. – Die Fotografien in diesem Heft haben Sachen zum Gegenstand, die einst Autoren und Autorinnen (größtenteils Schriftstellern und Literaten) zu eigen waren, deren Autorität die Aufbewahrung dieser nun herrenlosen Sachen in den Augen der Nachwelt legitimiert. Jene, denen sie gehört hatten, sind sogenannte schöpferische Menschen gewesen; sie haben ein Werk hinterlassen und nur zufällig und abseits davon, gleichsam als Abhub, noch diese Sachen, die sie überlebt haben (und die vielleicht länger leben werden als so manches unsterbliche Werk). Warum und wofür man sie aber aufbewahrt und was ihnen selber „zu eigen“ ist – das ist die Frage, die zu erörtern hier nicht mehr der Raum bleibt, weshalb vorliegender Text sich nicht nur als (unzureichende) Einleitung zu dieser Publikation versteht, sondern mehr noch als hinleitend zu einem weiteren, noch ungeschriebenen zu verstehen wäre, der, ausgehend von solchen „apokryphen“ Epiphänomenen der Autorenexistenz dem Gedanken vom „Tod des Autors“ noch einmal, und zwar in heilsgeschichtlicher Perspektive, nachzuspüren hätte.