In ihrem Schaffen richtet Ricarda Roggan den Blick meist auf Dinge und Orte, die vom menschlichen Verweilen und Handeln zeugen. Spuren des Gebrauchs und der Zeit interessieren sie. Ihr künstlerisches Herangehen hat dabei etwas Detektivisches, Sezierendes, die Bilder wirken stets klar und aufgeräumt. Personen sind auf Roggans Fotografien nie zu sehen, denn die Orte und Gegenstände, die sie mithilfe ihrer Kamera abbildet, sind verlassen oder zurückgelassen worden. Sie haben keine Funktion mehr. Man kann also sagen, dass die Künstlerin auf der Suche nach dem ist, was von den Menschen und Tätigkeiten übrig bleibt. Ihre Fotografien haben daher meist ein unbestimmbares Element der Schwebe und der Zeitlosigkeit inne, als würde etwas im luftleeren Raum hängen.

In den Jahren 2008 bis 2011 hatte Ricarda Roggan wiederholt die Möglichkeit, auf der Insel Zypern zu arbeiten. Hier entstanden, in der Auseinandersetzung mit dem Ort und dem dort Vorgefundenen, vier neue, in sich geschlossene Werkserien, die jeweils unabhängig voneinander existieren und funktionieren. Die Bildgegenstände sind dabei sehr unterschiedlich, sie reichen von archäologischen Ausgrabungsstätten bis hin zu Videospielautomaten. Dennoch eint sie, in lockerer, indirekter Weise, der oben beschriebene Blick, das Interesse der Künstlerin an den Spuren menschlicher Handlung und Zeit.

Die Serie AUSGÄNGE, in Schwarz-Weiß gehalten, zeigt teils menschlich, teils natürlich geformte Höhlen. Auf einem der Bilder sehen wir eine große organische Aushöhlung, die vermutlich durch die jahrtausendelange Erosion des weichen Kalkgesteins hervorgerufen wurde. Fransig und wild erscheint der Fels an den Rändern der Höhle, wir können die Kraft spüren, die an ihm gewirkt und ihn geformt hat. Beim genaueren Hinsehen erkennen wir inmitten all dieser Organik aber auch lineare, geometrische Formen. Ein schmaler Gang, geradlinig in den Fels hineingehauen, führt in den hintersten Teil der Höhle, in dem sich mit einer kleinen Aussparung, auch diese rechtwinklig in den Fels geschnitten, ein weiterer Raum eröffnet. Dieser bleibt jedoch im Dunkeln – was hier verborgen liegt, können wir nicht erkennen.

Solch dunkle, kühle Kammern und in den Fels gemeißelte Türen durchziehen die gesamte fotografische Serie. Die Bilder sprechen, in ihrer Stille und Archaik, von einer ureigenen menschlichen Tätigkeit: dem Hausbau und dem Wohnen. Hier wurde vor mehr als zweitausend Jahren ein Ort geschaffen. Die Öffnungen verweisen in ihren Ausmaßen auf den menschlichen Körper, und sie werden so zu Stellvertretern der nun nicht mehr vorhandenen Bewohner. Das anthropologische Element ist daher, obwohl kein einziger Mensch abgebildet ist, zum Greifen nahe. Und vielleicht lässt sich durch die Fotografien Ricarda Roggans gar mehr Leben erahnen, als hier jemals war, denn die Behausungen, die wir sehen, dienten den Ptolemäern zur Beisetzung ihrer Toten.

Die beiden Elemente Mensch und Natur bestimmen auch die ebenfalls in Schwarz-Weiß gehaltene Serie Sedimente. Aus den Bildern gibt es kein Entkommen, stets sehen wir uns direkt einer steinernen Wand gegenüber, die das Bild komplett ausfüllt. Der Himmel ist nicht sichtbar, von oben bis unten haben wir nur Stein vor uns. Die übereinander gelagerten Gesteinsschichten – mal horizontal, mal schräg verlaufend, nach oben hin erdiger werdend – sind der einzige Bildgegenstand. Obwohl uns auf den Fotografien scheinbar allein die Natur vor Augen geführt wird, so ist doch auch hier, in diesen Bildern, menschliches Handeln spürbar. Auf einer der Fotografien ist eine durchsichtige quadratische Plane auf dem Boden der Grube ausgebreitet – will hier vielleicht ein Archäologe seine Funde vor der Witterung schützen? An der steinernen Wand darüber können wir vertikale Rillen erkennen, die ein Bagger beim Ausheben der Grube hinterlassen haben muss. Diese Elemente sind Zeugnis des Menschengemachten, des Menschengewollten. Ob es sich bei den einzelnen Bildern um archäologische Grabungsstätten, Kiesgruben oder aber um eine Baugrube handelt, bleibt offen. Ricarda Roggan zeigt uns die Orte, ohne deren ursprüngliche Funktion zu klären. Denn wichtig ist eben nicht der Zweck, zu dem die Gruben einst ausgehoben wurden, sondern das Einwirken des Menschen auf die Natur, das diese überformt und neu erfahrbar gemacht hat.

Mit der Serie Reset geht es von der Archäologie und Geologie direkt ins 20. Jahrhundert, obwohl wir auch hier irgendwie von dem Gefühl beschlichen werden, es mit etwas ganz Archaischem zu tun zu haben. Denn die Videospielautomaten, die hier abgebildet sind, werden schon lange nicht mehr benutzt und wirken wie Dinosaurier, wie Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit. Staub und Ruß – hier muss einmal ein Feuer gewesen sein – haben sich dick auf die ehemals blitzenden, bunten Oberflächen gelegt. Die Bildschirme sind schwarz und stumpf, die virtuelle Welt ist erloschen und verstummt. Die verschiedenen Apparate, die Roggan fotografiert hat, haben allesamt denselben Aufbau: In einem mehr oder minder offenen Gehäuse, das formal zwischen Kammer und Karosserie angesiedelt ist, befindet sich ein Rennsitz, dessen zumeist rote Farbe einst Geschwindigkeit und Aggressivität ausstrahlen sollte. Dem Sitz gegenüber dann der Bildschirm, unter dem sich das Lenkrad und der Schaltknüppel befinden. Wir scheinen erahnen zu können, dass die Bildschirme einst die unbeholfene Computergrafik der 1980er Jahre wiedergaben, die aufgrund der sich rasant entwickelnden Technologie heute komplett veraltet ist und der Generation der Playstation 3-Nutzer nur noch ein leichtes Schmunzeln entlocken kann.

Bildnerisch bündelt Ricarda Roggan die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die Objekte selbst, indem sie den Umraum durch transparente Plastikplanen und eine geschickte Lichtführung quasi komplett ausschaltet und zugleich die Objekte ganz nahe zu uns heranholt. Sie füllen oft den ganzen Bildraum aus und werden somit zu einem eigenen Kosmos, der an ein Raumschiff aus einem alten Science-Fiction-Film erinnert. Der Sitz, das Lenkrad und der Schaltknüppel suggerieren dabei den menschlichen Körper, obwohl dieser nicht vorhanden ist. Die anatomisch geformten Bauteile, gemeinsam mit der Nähe der Videospielautomaten zur Bildfläche, führen dazu, dass wir fast schon das Gefühl haben, in sie einsteigen und auf den Rennsitzen Platz nehmen zu können. Wir möchten ausprobieren, ob die Dinger nicht doch irgendwie wieder in Gang zu bringen sind. Das Apokalyptische, das die Fotografien allesamt auszeichnet, rückt diese Hoffnung in weite Ferne.

Die drei Fotografien, die mit dem Titel Set überschrieben sind, sind im Laufe des künstlerischen Prozesses und fast wie von selbst entstanden: Es handelt sich hier um Abbildungen des Raumes, des fotografischen Sets, in dem zuvor die Videospielautomaten fotografiert wurden. Ein völlig funktionaler, künstlicher Raum-im-Raum also, der eigentlich nur dazu diente, die Umgebung auszuschalten. Nachdem die Apparate entfernt wurden, erkannte Roggan jedoch dessen eigenes bildnerisches Potential und begann zu experimentieren, den Raum selbst zum Bildgegenstand zu machen. Wie die Fotografien entstanden sind, ist jedoch für die Lesart der Bilder völlig unerheblich, denn diese haben nun ihre eigene Autonomie erlangt, sind zu starken Bildern geworden. Entgegen der funktionellen Machart des Raumes sind ihnen malerische Elemente eigen und pendeln zwischen dem Gegenständlichen und dem Abstrakten. In ihrer Bildsprache sind sie anderen Werken der Künstlerin, wie beispielsweise der Serie Schacht, verwandt.

Ricarda Roggan ist eine Fotografin, deren künstlerisches Herangehen generell als konzeptuell bezeichnet werden kann. Einer Thematik beziehungsweise einer Fragestellung folgend, werden Objekte oder Orte aufgesucht und sorgfältig vorbereitet; dann erst erfolgt die Umsetzung in die Fotografie. Bei SET stand jedoch nicht die Suche an erster Stelle, der Bildgegenstand war bereits vorhanden. Was in diesem Falle stattfand, war ein bloßes Ins-Bild-Setzen. Und vielleicht haben wir somit am ehesten vor Augen, wie Roggan die Dinge sieht, wie sie künstlerisch arbeitet und denkt. Denn egal, um welchen Bildgegenstand es sich handelt, seien es geologische Schichtungen, verlassene Räume oder nicht mehr genutzte Objekte, letztlich geht es bei ihr immer um das Bild, das die Kraft haben muss, jenseits des Konzeptes und der Thematik zu wirken und den Betrachter visuell einzunehmen.