»Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist: sie in unserem Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. […] Nicht wir versetzen uns in sie: sie treten in unser Leben.«
Walter Benjamin, Aufzeichnungen zum Sammler (1)
Zerstörte Räume, vergessene Pläne und die Ursprünge einer Methode
Als das Bücherbrett an der Rückwand des Raums aus seiner Halterung gerissen wurde, muss das Bändchen hinter die anderen Bücher gerutscht sein. Halb verdeckt ist der Umschlag von Thomas Morus’ »Utopia«, doch den fehlenden Teil des Titels ergänzt der Betrachter. Auf dem Rücken eines Romans liest er »Stadt ohne Namen« eines gewissen Gennadi Nikolajew, unterhalb des Stapels, in einem aufgeschlagenen Buch, ist die Aufnahme eines Atompilzes abgebildet. Vor dem Sturz des Bretts müssen die Bücher den nahe angebrachten Wandteller aus Keramik verstellt haben, auf dem eine blaue Taube die beigefügte Sentenz versinnbildlicht: »Der Frieden besiegt den Krieg«.
Es sind hier nur einige wenige Details einer großformatigen Fotografie genannt, die einen zerstörten Raum darstellt (Abb.1). Die beschriebene Fotografie hängt ihrerseits in einem Raum, der über dieselben Gegenstände, eine Landkarte, einen Globus, einen Tisch, einen Stuhl, ein Telefon etc. verfügt, wie sie auf dem Bild zu sehen sind; der Raum selbst weist jedoch keine Spur der Zerstörung auf. Aus einem Radio ist die Stimme einer Frau zu hören, die in offiziellem Tonfall über die Infrastruktur und die Versorgung einer bestimmten »Stadt N« referiert. Das Bild der Zerstörung an der Wand scheint die Vision des zu erwartenden Ereignisses zu sein, es nimmt die Katastrophe vorweg, auf die der gelesene Text, das »Operativ-taktische Dokument der Stadt N«, uneingestanden vorbereiten möchte (Abb.2).
Das Bild und der Raum sind Bestandteile der Installation »Stadt N«, eines frühen Arbeitszyklus der Leipziger Künstlerin Ricarda Roggan aus den Jahren 1998/99. Was hier eine raumgreifende Form gefunden hat, basiert auf einem Dokument über eine modellhafte Stadt, welches zur effektiven Planung von Schutzmaßnahmen bei Luftangriffen geschrieben und von Roggan im Büro des Zivilschutzbeauftragten einer verlassenen Leipziger Fabrik gefunden wurde. Bei ersten Ausstellungen in Leipzig und Zürich kam die Installation der »Stadt N« ohne das großformatige Bild der Zerstörung aus, erst in späteren Präsentationen ergänzt ausgerechnet die Fotografie den Raum und seine darin befindlichen Dinge um eine Hypothese: Falls der Raum zerstört würde, dann sähe die Ordnung für den zerstörten Raum so aus. Jeder Raum scheint über ein Maß an plausiblen Ordnungen zu verfügen, und die Fotografie ist das Medium, sie auszuloten.
Am Beginn dieser Arbeit muss der Wunsch gestanden haben, das eigene Medium zu verlassen oder zumindest auf andere Arbeitsweisen hin zu öffnen – vielleicht weil die Darstellungsmittel nicht als ausreichend erschienen, um einem solch komplexen Fundstück wie dem Dokument über die »Stadt N« gerecht zu werden. Für eine Studentin der Fotografie an einer Kunsthochschule wie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, an der Ricarda Roggan studierte, war dies keine seltene Erfahrung. In der Aufbruchstimmung der zweiten Hälfte der 90er Jahre besaß die Installation als künstlerische Arbeitsweise für die dortigen Studierenden eine besondere Attraktivität, obschon oder gerade weil sie nicht Gegenstand der klassischen Disziplinen war. (2) Nicht zuletzt war sie ein spielerisches Mittel, um Abstand zum strengen Medium Fotografie zu bekommen und um einer bestimmten Beschaffenheit von Dingen eine Präsenz im Raum zu geben, die in der einfachen Abbildung zu verschwinden drohte. In den Jahren des Haupt- und Meisterschülerstudiums in der Klasse von Timm Rautert sollte es für Ricarda Roggan auch darum gehen, die Fotografie als ein Mittel der Konstruktion neu zu entdecken.
Entnahme und Übersetzung ins Bild als Prinzip eines doppelten Transfers
Im Rückblick erscheint »Stadt N« als das Kondensat einer experimentellen Suche nach einer neuen Methodik und zugleich als eine Arbeit des Übergangs; in ihr artikuliert sich bereits jene besondere Qualität von Roggans hybrider Darstellungsweise, die aus einem Ineinanderwirken von installativer Inszenierung und fotografischer Bildlichkeit besteht und die im »großen stillen Bild« des fotografischen Abzuges ihre endgültige Form annehmen wird. In gleichem Maße entfernen sich die späteren Arbeiten immer mehr von der Illusion des authentischen Ortes und dem narrativen Exzess an Indizien, wie sie uns in der Fotografie des zerstörten Raums entgegentritt. Die Fotografien der folgenden Serien und Werkkomplexe zeigen zunehmend reduziertere Zusammenstellungen von Dingen, die aus bereits gebrauchtem Mobiliar und einigen wenigen Gebrauchsgegenständen bestehen, welche sich vorwiegend aus dem Bestand leerer Häuser oder aufgegebener Fabrikräume einer aus der Zeit gefallenen sozialistischen Lebens- und Arbeitswelt rekrutieren. Inmitten dieser Hinterlassenschaften beginnt Roggans künstlerischer Prozess eines doppelten Transfers: die Dinge werden physisch aus ihrem angestammten Kontext herausgelöst und in einem verwandten, jedoch gänzlich entleerten Raum wieder aufgestellt, teilweise wird dieser Raum von Roggan erst als solcher durch weiße Wände abgesteckt. Entwurzelt stehen die Objekte auf demselben Boden, dem sie entnommen sind. So entwickelt sich zwischen ihnen und ihrer neuen räumlichen Umgebung ein subtiles Verhältnis von artifizieller Isoliertheit und einer gewissen Familiarität. Zugleich stehen sie untereinander in einer bestimmten, aber ungeklärten Relation. Was bedeutet es, wenn ein Unbekannter seine Habseligkeiten in zwei kargen unterirdischen Schlaflagern auf identische Weise anordnet (die Arbeiten »Zimmer I + II«)? Wie weit gelingt es den skulpturalen Gebilden aus abgestellten, übereinandergestapelten und eingepackten Möbelstücken (die Serie »Interieur«), die Identität der absenten Person und ihres Wohnraums zu umreißen? Und was liegt dem Stand der Dinge zugrunde, die sich in Roggans bisher umfangreichstem Werkzyklus »Stuhl, Tisch und Bett« einen weißen, containerförmigen Raum teilen? Trotz ihrer nur spärlichen Besetzung scheinen diese Dinge und ihre Konstellationen denselben Raum immer wieder anders zu definieren, als rudimentäre Entwürfe eines Pausenraums, eines Büros, eines Lazaretts, etc. Dass uns die Dinge so zu sehen gegeben sind, wie wir sie sehen, in einer vorgegebenen Perspektive und begleitet von unseren Mutmaßungen, verdankt sich einer zweiten Übersetzung, der ins fotografische Bild.
Das Fotografische und das Inszenatorische, Kontingenz und Konstruktion
Groß war die Emphase, mit der Ende der 1920er Jahre der neusachliche fotografische Blick auf die Dinge bedacht wurde, als ob das Maschinenbild einen unvermittelten Zugang zu den technischen Konstrukten und den Gebilden der Natur bieten könnte, welcher dem menschlichen Auge bisher verschlossen war. Die strenge Sachaufnahme offerierte eine perfekte, fast körperlose Erscheinung der modernen Produkte; in ihr schienen die Dinge »zu sich« gekommen zu sein. »Das einzelne Objekt, das innerhalb seiner Umgebung niemals aus dem Kreis der trauten Erscheinungen herausfiel, gewann auf der Mattscheibe ein ureigenes Leben«, notiert die Fotografin Aenne Biermann 1929. (3) (Abb.3) Etwas von diesem Glauben an eine latente Präsenz der Dinge wird auch in den Fotografien Roggans lebendig, obwohl sich die Künstlerin gerade nicht der klassischen, apparativen Sichtweisen, etwa des engen Ausschnitts oder der Nahaufnahme bedient. Ohnehin sind die Objekte bereits exponiert und unter dem hellen Neonlicht in eine völlige Sichtbarkeit übersetzt; die Aufnahme verhilft ihnen zunächst nur zum Fortdauern im visuellen Speicher der Fotografie.
Was sich jedoch mit ins Bild hinüberrettet und durch die Leere des Raumes zu besonderer Geltung kommt, ist die Anordnung, in der die Dinge dargestellt sind. Die Arrangements erhalten eine zentrale Bedeutung, nicht nur weil sie durch das Herausgerissensein des fotografischen Fragments mit Fiktion aufgeladen sind (wer ist zuletzt von diesen Stühlen aufgestanden?), sie transportieren in der jeweiligen Konstellation immer auch einen Moment des so Vorgefundenen, etwa in der Art und Weise, in der sich Stühle ungleich und in leicht differenten Distanzen um einen Tisch gruppieren. Das eigentlich Fotografische dieser Bilder ist daher – stärker noch als ihre schlichte Abbildung – die Kontingenz, die scheinbare Zufälligkeit im Rahmen einer gewissen Ordnung, in der die Dinge zum Stehen gekommen sind, als sie das letzte Mal genutzt wurden. Tatsächlich orientiert sich Roggan in der (Re)Konstruktion der Ensembles nicht selten an fotografischen Notizen, die sie an den Fundorten zur Skizzierung der ursprünglichen Situation aufgenommen hat. Zum anderen bedient sie sich gefundener Bilder oder cinematografischer Einstellungen von Interieurs, die einen vieldeutigen Handlungsrahmen abgeben. So entwickelt sich auf der Fläche ihrer Fotografien ein Spiel von Urbild und Abbild, von Zufall und Notwendigkeit, von Aufzeichnung und Nachbau; Fotografisches und Inszenierendes wirken ineinander und lassen sich nicht mehr trennen.
Grenzgängerin und Lumpensammlerin
Unter den vielen Spielarten der »Staged Photography« gehören Roggans Arbeiten definitiv nicht zu jenen Positionen, die phantastische Welten kreieren oder einer künstlichen Szenerie die Illusion des Realen verleihen möchten. (4) Vielmehr sind es strenge, Bild gewordene Installationen, welche im formalen Gegensatz zu der inhaltlich verwandten Kunst eines Ilya Kabakov stehen, der seine Totalinstallationen als begehbare Bilder entwirft. Die Installationen oder auch Assemblagen Roggans sind hinter dem undurchlässigen Schleier der fotografischen Oberfläche verschlossen, sie folgen einer Dialektik des Exponierens und Entziehens, wie sie in der Arbeit »Interieur« durch die Schichten transparenter Folie ihren metaphorischen Ausdruck findet. Diesem Gestus des Zurschaustellens im entleerten Raum geht eine Form der fotografischen Aufnahme einher, die an die publizierten Reproduktionen von Installationen in Kunstzeitschriften und Monografien erinnert. (Abb.4) Gewiss, Roggans Räume setzen sich als eigens konstruierte Schau-Orte mit der historischen Grundierung ihrer Böden vom neutralen white cube der Galerie oder des Museums ab, aber die ähnliche Perspektive der Aufnahmen fordert den Betrachter heraus, den Rollenwandel des fotografischen Bildes, vom dienenden Medium der Reproduktion zum autonomen Bild an der Wand, von der demütigen Rolle der Dokumentation zur selbstbewussten Behauptung eines eigenständigen, fiktiven Raums nachzuvollziehen. Es gehört zur bildnerischen Sorgfalt ihrer Arbeit, diese zurückgenommene Sichtweise in der visuellen Tradition des künstlerischen Diskurses für ihre Form des fotografischen Stillebens produktiv gemacht zu haben.
Auf der anderen Seite, inmitten des »konstruktivistischen« Paradigmas der zeitgenössischen Fotografie, analysieren verschiedene Positionen den Wirklichkeitsgehalt von Bildern, indem sie gebauten Modellen oder Simulakren jeglicher Art durch die fotografische Abbildung erst zu einer eigenen Wirklichkeit im Bild verhelfen. Roggan hingegen vertraut den existierenden Dingen, ihrer Originalität und ihrer Aufladung mit Geschichte. Sie untersucht das Konstruktionspotential der Kamera, indem sie die Dinge in ihren eigenen Raum holt und auf ein abgesperrtes Terrain entlässt; dann nämlich, wenn die Spuren der Geschichte sichtbar werden, entfalten die Dinge, herausgelöst aus ihrem angestammten Milieu, ihre eigene Physiognomie. Roggans Methode ist somit eine des Schnitts, der Entnahme und der Transfiguration, sie folgt einer – nicht nur fotografischen – Ästhetik der Errettung der Äußeren Wirklichkeit, die Siegfried Kracauer als eine geradezu messianische Aufgabe für die Kameramedien Fotografie und Film definierte. (5)
In formaler Hinsicht ist die Leipziger Fotografin eine Grenzgängerin; innerhalb der künstlerischen Gemeinde der Spurensucher ließe sie sich, frei nach Charles Baudelaire, als eine »chiffonnière« bezeichnen, eine Lumpensammlerin, die sich in den für die heutige Zeit unnütz gewordenen Resten einer untergegangenen sozialen Ordnung und einer verschwindenden industriellen Kultur das Material für ihre künstlerische Existenz zusammensucht. Wertlos gewordene Gegenstände sind für sie immer noch von Wert aufgrund der ihnen innewohnenden Zeugenschaft. Wie kaum eine andere repräsentiert Ricarda Roggan durch ihr Werk jene Generation junger Künstlerinnen und Künstler, die die ehemalige Leipziger Baumwollspinnerei als Ort künstlerischer Produktion neu bewirtschaften. In den Gebäuden der Spinnerei und in vergleichbaren Räumen industrieller Brachen fand Roggan die Protagonisten ihrer Bilder, dort richtete sie sich ihre Interieurs und Arbeitsräume ein, ohne dem pittoresken Charme der Ruine zu verfallen. Die Ikonographie ihrer rätselhaften Konstellationen spiegelt das Verlassene und die Stille dieser Orte wider sowie die sinnlos gewordenen Anordnungen einer vergangenen Zeit. Und vielleicht rührt paradoxerweise die Authentizität und Autorität der Dinge daher, dass in der Lakonik ihrer Erscheinung etwas von der alltäglichen Ordnung wieder sichtbar wird, welche in der Leere der Räume nur noch als eine verschwundene präsent ist. Ein behutsames Vorgehen ist notwendig, um diese Beziehungen von Dingen aufzuzeichnen, um »… das Bild der Geschichte in den unscheinbarsten Fixierungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam, festzuhalten.« (6) Wo einst Werktätige oder Schulkinder saßen – doch wer tagte eigentlich an jener langen Tafel mit ihren vielen Stühlen, und was wurde dort beschlossen? (das Triptychon »Stühle und Tische«) –, kehrt nun hin und wieder der Engel der Geschichte ein, um in Anbetracht des Vergangenen ein wenig zu verweilen, bevor ihn der Sturm des Fortschritts davonreißen wird. (7)
Walter Benjamin, »Das Passagen-Werk«, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1972, Bd. V, S.273.
Von nachhaltigem Einfluss war das Projekt Stimmen hinter der Tür von Ilya Kabakov, der 1996 als Gastprofessor in Leipzig lehrte. Siehe hierzu Jan Wenzel und Valentin Wetzel, O.s Dokumentation. Dokumentation des Projekts Teaching by Working I mit Ilya Kabakov, hrsg. v. Dieter Daniels und Klaus Werner, Leipzig 1998.
Aenne Biermann, Fotografien 1925–33, Ausst.-Kat. (Museum Folkwang Essen) 1987, S.11. Siehe auch Walther Petry, »Bindung an die Dinge«, in: Das Kunstblatt, Bd. 13, Nr. 8, Berlin 1929, S.246–248. Wiederabgedruckt in: Aenne Biermann, a.a.O., S.116–118.
Siehe u.a. Anne H. Hoy, Fabrications. Staged, Altered, and Appropriated Photographs, New York 1987. Siehe auch Das konstruierte Bild: Fotografie – arrangiert und inszeniert, hrsg. v. Michael Köhler, Schaffhausen 1989/1995.
Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1964 (erstveröffentlicht in: ders., Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, New York 1960). Vgl. auch Falk Haberkorn, »Das Paradies der Dinge«, in: Ricarda Roggan, Stuhl Tisch und Bett, Ausst.-Kat. (Galerie Eigen+Art Leipzig/Berlin), Leipzig 2003, S.5–9.
Walter Benjamin über sein Passagen-Werk in einem Brief vom 9.8.1935 an Gershom Scholem, zit. nach Josef Fürnkäs, »Das Ephemere der Geschichte. Louis Aragon und Walter Benjamin«, in: Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte. Walter Benjamin – Theoretiker der Moderne, Ausst.-Kat. (Werkbund Archiv), Berlin 1990/91, S.117.
Der Engel ist die allegorische Figur aus Benjamins IX. These zum Begriff der Geschichte, siehe Walter Benjamin, Allegorien kultureller Erfahrung, Leipzig 1984, S.160–161.