„Alle Werke haben dieses Dinghafte.“ (1)
Martin Heidegger
Es sind nicht die ersten Dinge, die der Künstlerin Ricarda Roggan hier vorlagen. Seit längerer Zeit ist sie den Dingen im Raum schon auf der Spur und schaut nach dem, was ihnen geschieht, einmal in ihren Blick getragen, dann von der Kamera und dem Gestell um diese herum aufgenommen, schließlich uns zum Anblick angeboten. Ricarda Roggan fotografiert Dinge im Raum und überträgt sie ins Bild. Sie dichtet Raum und Dinge. Den Dingen selbst widerfährt dabei der Entzug ihres Raums, und wären sie in der Lage, so würden sie selbst von der Zeit und dem Raum bekunden können, in die sie nun gebracht worden sind. Sprachlos aber sind die Dinge, und doch verlangt es sie nach einer Sprache.
„Die Kunst ist der dunkle Wunsch aller Dinge“, schrieb Rainer Maria Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen Aufzeichnungen über die Kunst. Die Dinge wollen erblickt, erfasst und gedeutet sein, damit sie Teil der Sinne und der Sprache des Menschen werden, um selbst, folgerte Rilke, „aus den schweren unsinnigen Beziehungen der Konvention in die großen Zusammenhänge“ des Menschen, der Kunst, gehoben zu werden. (2) Die Dinge sprechen nicht, sie denken nicht, sie fühlen nicht, sie entscheiden nicht, „sinnend“ sind sie doch, die Dinge, da sie den Menschen betreffen, ihn bedeuten, in seine Sprache, sein Fühlen und sein Handeln hineinwirken, ihren Anteil am Menschen einnehmen, am Menschen eine Teilhabe suchen, ohne je Mensch zu werden. Die Hingabe zu den Dingen – das Denken und Schauen der Dinge – verbindet Ricarda Roggan mit Rainer Maria Rilke, und die Nähe beider scheint inniger zu sein als nur die einer alliterierenden Resonanz. Die Fotografie fasst die Dinge in der Zeit, sie lichtet sie, und Ricarda Roggan verfährt bewahrend mit ihnen, da sie den Dingen – und uns – in einer augenblickhaften Absonderung des Raums ihr Bild schenkt.
Bevor wir uns an ihren Umgang mit den Dingen machen und das Geschick verfolgen, das sie den Dingen mit ihrer Kunst in Aussicht stellt, müssen wir uns diese Dinge, die Apokryphen, erst einmal anschauen. Aber wir schauen schon nicht mehr die Dinge an, sondern die von ihnen hergestellten Fotografien und müssen also im Zuge der Betrachtung auch versuchen, „umgekehrt [zu] denken“ (3), für einen Moment das Ding betrachten, als ließe es sich auch von hinten oder anders sehen, als wäre ihm für einen Moment seine Geschichte zurückerstattet. Viele dieser Dinge liegen nun um mich herum, fotografiert, 14 von insgesamt 80 Bildern, vierzehn Apokryphen von Ricarda Roggan.
Die Dinge liegen wie zur Abholung aufgebahrt, ganz als warteten sie darauf, fortgetragen zu werden. Woher kommen sie, welche Geschichte ist ihnen widerfahren, welcher Zeit gehören sie noch an und in welchem Licht erscheinen sie uns? Viele Dinge sind es, und alle diese Gegenstände vor mir entstammen dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Es sind eigentlich ungeheure Dinge. Eine Locke in einem kleinen Glasschrein, der gerade noch Raum für ein hineingeschobenes, in alter Schrift beschriebenes, doch nicht lesbares, wohl der Zeit der Locke zugehöriges Papier hat, vielleicht im Todesjahr des deutschen Schriftstellers Hermann Essig, 1918, geschnitten und geschrieben. Die sorgsam eingehüllte und in einen Karton gelegte Baumrinde aus dem Nachlass des 1930 gestorbenen Wilhelm Benignus oder ein weißer Handschuh des Dichters Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, gestorben 1828, dann die glänzende Schale von Karl Wolfskehl, gestorben 1948, oder der Trinkbecher von Yvan und Claire Goll, gestorben 1950 und 1977, das Petschaft von Wilhelm Hausenstein, gestorben 1957, das im Deckel leicht eingedrückte Schachspiel des 1827 mit 25 Jahren jung gestorbenen Wilhelm Hauff, das Brotmesser des Theologen und Autors David Friedrich Strauß, gestorben 1874, die breite, flach ruhende, aus den Haaren seiner Frau geflochtene Uhrkette von Ludwig Uhland, gestorben 1862, das sorgsam in Papier gefaltete Rindenstückchen von Christoph Martin Wieland, gestorben 1813, die einsame und blickfreie Brille von Arthur Schnitzler, gestorben 1931, das entfaltete und auf dem Gesicht liegende Streichholzmäppchen von Ernst Jünger, gestorben 1998, oder die sorgfältig im Futteral bewahrte Taschenuhr von Martin Heidegger, gestorben 1976, stehengeblieben um 3 Uhr 40. Die Geschichten dieser Dinge verweisen auf ihre Besitzer, und auf Karteikarten des Archivs sind Teile der Wege der Dinge nachzulesen, wie und durch wen sie in das Archiv nach Marbach gelangten. Ding ist, was Raum verdrängt, heißt es bei Kant, und was als Ding erachtet doch keinen Raum verdrängt, ist als „Ding an sich“ transzendental oder ein Phantasma, eine Phantasmagorie.
Die Taschenuhr der Schauspielerin und Autorin Charlotte Birch-Pfeiffer, gestorben 1868. Die Zeiger sind nach 3 Uhr 28 nicht mehr weitergegangen, die Taschenuhr liegt mit leicht geöffnetem Deckel mitsamt einer Schnur oder Kette in einer Schachtel, eng liegt sie darinnen, als hätte sie gerade noch einen Platz gefunden, für sich, für ihr nicht mehr aufgezogenes Uhrwerk, die zum Auslaufen eingestellten Zeit sowie für die Kette, die sie an den Menschen band, dem die Uhr einmal die Zeit zum Ablesen gab. Die einfache Schachtel liegt, der Betrachtung zugewandt, leicht schräg in ihrem hölzernen Deckel. Dem Schatten nach, auf der hellgrauen und zum Maß, vertikal zum Hintergrund, in Abständen von wenigen Zentimetern gerillten Fläche, ist der Deckel leicht gewölbt, und das Ding, die Uhr mitsamt der Kette, liegt links etwas aus der Mitte heraus. Die untere Partie, etwa ein Neuntel der Bildfläche, wird von einem schwarzen Streifen, einem Nichts, gebildet, einer Leere, auf der eine schmale Fläche zum Empfang der Dinge ruht, hier der Schachtel, die leicht in den mehr als die Hälfte des Bildes ausfüllenden und nach oben sich lichtenden hellgrauen Hintergrund hineinragt. Die Bühne, wenn man sie so nennen mag, ist gleichbleibend bei allen Apokryphen von Ricarda Roggen, eine schwarze, breite Linie, ein schwebendes Feld der vertikalen, perspektivisch sich am Horizont treffenden Linien, grauer Hintergrund, gestreutes Licht von oben.
In den Apokryphen stellen die Dinge sich uns machtlos dar. Wenn auch zunächst eine rituelle und weihevolle Darbietung der Dinge sich ankündigen könnte, so wird sie zurückgenommen durch die uniforme, quasi szientifische Präsentation der Gegenstände. Also was ist geschehen? Diese Dinge gehörten Menschen an, deren Hinterlassenschaften zur Archivierung und Bearbeitung dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, das die Bedeutung für die große Geschichte anerkannte, überantwortet wurden. Autografen, Bilder oder Tondokumente tragen eine Lesbarkeit und können je nach den Verordnungen des Archivs entsprechend in Rubriken verordnet und kanonisiert werden. Ihre Reproduktion folgt Maßgaben der Transkription, der Editierung, Faksimilierung oder Illustration. Die Aufarbeitung dieser Archivalien unterliegt einer komplexen und im Laufe der Zeit je zu revidierenden Taxonomie und editorischen Praxis. Das Archiv kann das Nachleben der Dinge gewähren und wird (hoffentlich) nichts unversucht lassen, der Sinnfälligkeit der Dinge stets erneut eine Lesbarkeit abzuverlangen.
Die Dinge aber, die Ricarda Roggen sich auserlesen hat, fallen in kein wirkliches Raster, tragen die Chiffren ihres Gebrauchs und allenfalls den Geist jener, denen sie als Dinge gedient haben, in sich. Doch nun entfernt von jeder Dienlichkeit liegen sie bloß dar. Die Dinge aber sind keine Werke, keine Kunstwerke, sie sind Stoff, Form und Zeug, möchte man mit Martin Heidegger sagen. Von Ricarda Roggen sind sie aus ihren Futteralen, den Interieurs ihres Sinns, heraus und auf eine Bühne gehoben worden. Nun bieten sie sich dar, stellen sich. Sie liegen wirklich bloß dar, und „,bloß‘ meint doch die Entblößung vom Charakter der Dienlichkeit und der Anfertigung“. (4) Nun sind sie ein bloßes Ding, und zugleich entgeht ihnen im Lichte ihres Werdens die Dinglichkeit als dem Ding, das sie waren, zugunsten einer bildhaften Dinglichkeit, die sie augenblicklich geworden sind. Ihre Auslösung aus der archivarischen Befangenheit war keine Befreiung – wie sollten die Dinge auch befreit werden und wovon, wenn nicht von ihrer Dienlichkeit? – , sondern eine Einbettung in andere Umstände, in die Umstände der Kunst. Und erneut ließe sich mit Heidegger fragen, ob die Dinge hier sind „als die Werke, die sie selbst sind, oder […] nicht eher als die Gegenstände des Kunstbetriebes“? (5) Hat die Versetzung der Werke in eine Sammlung „sie ihrer Welt entzogen?“ (6) Aber waren es denn Werke oder Dinge, und wenn denn Kunstwerke „so natürlich vorhanden wie die Dinge sonst auch [sind]“ (7) – und Heidegger hat trotz der Kritik des Kunstbetriebs und der Kritik des Wandels von Kunst-Erfahrung zu Kunst-Erlebnis dennoch ein Readymade von Marcel Duchamp nicht in seine Philosophie über den Ursprung des Kunstwerks einbezogen –, sind denn die Dinge nun in der besorgten Aufstaffelung zur Szene durch Ricarda Roggan zum Kunstwerk geworden? Eben noch, bevor sie hervorgeholt worden sind, waren diese Dinge allenfalls als säkulare Devotionalien oder, je nach Ansehung, als Fetische in geistigem Gebrauch. Ansonsten wird man sie tatsächlich „apokryph“ nennen dürfen. Messer, Baumrinde, Schale, Krug, Handschuh oder eine aus den Haaren der geliebten Frau geflochtene Uhrenkette – sie sind dem Gebrauch entzogen und sprachlich als Ding nur ihrer Funktion nach zu benennen, dem Werk aber ihrer Besitzer stehen sie fern, selbst noch das Schreibgerät oder die Schreibmaschine haben im Archiv ihr Wirken eingebüßt.
„Apokryph“ sind die Dinge geworden, weil sie dem Werk ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin nicht mehr angehören und gleichsam ein Schattendasein neben den geschriebenen Sätzen, Reimen und Werken fristen. Beiläufig sind diese Dinge geworden, marginal, oder wie nach Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert die Randgebiete der Ästhetik als „sciagraphisch“ bezeichnet wurden, keiner Ästhetik, keinem Kanon richtig zugehörig. „Sciagraphia“ war bekanntlich auch die erste Bezeichnung, die der englische Erfinder der Fotografie, William Henry Fox Talbot, für sein Verfahren der reproduzierbaren Fotografie auserwählt hatte, Schattenschrift eben, den Ursprungsmythos der Malerei evozierend.
„Apokryph“ und „sciagraphisch“ sind diese Dinge, zumindest waren sie es, bis Ricarda Roggan sie ins Licht geholt hat, ins Zentrum ihres Blickes und der szenischen Vorrichtung. Keines ihrer Dinge wird je wieder zu seinem Gebrauch zurückfinden, ihre Geschichten aber bewahren sie. Von der silbernen und innen vergoldeten Schale aus dem Nachlass von Karl Wolfskehl heißt es, sie sei als Geschenk für Stefan George angefertigt worden, eine Gabe, die den schon kranken Stefan George nicht mehr erreicht hat. Die Schale wiegt sich auf dem Untergrund, Schatten und untere Rundung der schlichten, ornamentlosen Schale vereinen sich im Bild. Das Metall gibt in seiner inneren, uns sichtbaren Rundung einen schmalen Balken von dem Licht wieder, das es in Erscheinung gerufen hat. In seinem Entwurf einer japanischen Ästhetik, Lob des Schattens, beschrieb Tanizaki Jun’ichirō 1933 seine Empfindungen angesichts einer Schale: „Wenn ich die Suppenschale vor mir habe, wenn ich die Schale singen höre […], wenn ich meine Sinne auf den Vorgeschmack der Speise richte, die ich gleich kosten werde, dann fühle ich mich immer in einen Zustand der Selbstvergessenheit versetzt.“ (8) Die Schale, das Ding, erscheint ganz als Ding, ist es doch zunächst ein Ding, das einer Empfindung und einem Denken erscheint, seinen Gebrauch vorausahnen lässt. Die „Selbstvergessenheit“ setzt die Dinge in ihren Ursprung zurück. Durch die behutsame Einrichtung der Dinge vermag Ricarda Roggan die Dinge für einen Augenblick von deren Geschick, an die eigene Geschichte gebunden zu sein, zu befreien, um für uns dann beide, Geschichte und Erlösung, ins Licht zu setzen. Ricarda Roggans Dinge tragen ihren Anfang und ihr Ende zusammen und zum Anfang wieder hin. Dinge in der Zeit, Dinge im Raum.
Wenn wir vom Ding sprechen, denken wir an das Gefäß, so wie Heidegger es in seinem Vortrag über das Ding tat; wir tun es, weil das Gefäß anderes als die Form und den Gebrauch enthält und mit der Schale eben auch die Hand meint, die zu ihr greift oder die Lippen, die an dem Rand der Schale rühren, oder die Erde, auf der die Schale sich wiegt. Sicherlich aber auch, weil das Gefäß wie kein anderes Ding als Form den Inhalt trägt, und umfasste es nicht seinen Inhalt, so wäre dieser Inhalt nicht. In seiner kleinen Betrachtung über die durchweg fragwürdige Aufgabe der Kunst, „die räumliche Gestaltung der Dinge zur Darstellung zu bringen“, fasst Georg Simmel die Vielfalt in der Beziehung zwischen der Funktion des Dinges und der wesenhaften Bestimmung des Menschen durch das Ding mit den Worten zusammen: „Mit dem Henkel reicht die Welt an das Gefäß heran, mit dem Ausguß reicht das Gefäß in die Welt hinaus.“ (9) Um dieses Miteinander im Leben von den Menschen und den Dingen, das zu jedem Augenblick Veränderungen unterworfen ist, geht es in der Kunst von Ricarda Roggan.
Die Entleerung der Räume und die Platzierung der Dinge bewirken eine eigentlich dichterische Bewegung, als fügte Ricarda Roggan einen Satz in den Raum, wie einen Haiku, dessen Sinn sich jenseits der Bedeutungsebene der einzelnen Wörter in einem Augenblick, in einer Zeit ohne Zeitgefälle erschließt. „Vielleicht“, schreibt Georg Simmel, „formuliert dies den Lebensreichtum der Menschen und der Dinge; denn dieser ruht doch in der Vielfachheit ihres Zueinandergehörens, in der Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen, in der Bindung und Verschmelzung nach der einen Seite, die doch zugleich Lösung ist, weil ihr die Bindung und Verschmelzung nach einer anderen Seite gegenübersteht“. (10) Im Moment der Aufnahme der Schale von Karl Wolfskehl und in meinem Moment der Betrachtung der fotografierten Schale vollzieht sich diese „Gleichzeitigkeit“ der Bindung an eine eigene Geschichtlichkeit des Dinges sowie der Entbindung aus seinem Nutzen. Die Schale, das nicht vollzogene Geschenk, gerät für diesen Augenblick in eine Eigenzeit, unsere „Selbstvergessenheit“, und wird Teil der „großen Zusammenhänge des Menschen“.
Der amerikanische Kunsthistoriker George Kubler hat in seinem 1962 publizierten Essay The Shape of Time. Remarks on the History of Things ein Plädoyer entworfen, das die Dinge der Geschichte aus ihrer Zeit der Historisierung und konstruierten, zeitlichen Folgerichtigkeit zu erlösen gedachte, um sie im „Netzwerk der Dinge“ in die Freiheit der denkbaren Zuordnungen von Serien und Sequenzen zu setzen. In The Shape of Time schreibt George Kubler: „[…] jedes Kunstwerk ist ein Stück eingefangenen Geschehens oder eine Emanation der Vergangenheit. Es ist das Dokument einer abgeschlossenen Aktivität; aber dieses Dokument verdankt seine Sichtbarkeit einem Licht, das seinen Ursprung, vergleichbar dem Himmelskörper, im Augenblick der Aktivität hat.“ (11) Diese Bemerkung Kublers zum Heraufkommen des Vergangenen in Analogie zu den Sternen erinnert an Walter Benjamins Begriff der Konstellation. Nicht allein bricht der fotografische Augenblick in das historische Kontinuum ein, in Benjamins Lektüre der Fotografie steht das fotografische Bild für die allegorische Personifizierung des Kronos-Saturn und krönt einerseits die Irreversibilität des historischen Geschehens, das „unerbittliche Abrollen jedes Lebens zum Tode“, um andererseits mit gleicher Geste die Chronologie umzustülpen und die Jetztzeit von der Zukunft her zu perspektivieren. Oder, wie es Walter Benjamin für die fotografischen Augenblick formulierte, dieser vermag „den Dargestellten als Zeugen gegen die Überlieferung aufzubieten, die sein Bild auf die Platte rief“. (12) So stehen wir vor den Apokryphen von Ricarda Roggan, vor ihrer Fotografie der Schale von Karl Wolfskehl und deren sowohl vollendetem wie doch unerreichtem Geschick. Diese Dinge sind aufgeladen von Zeit, und doch scheinen sie zu pausieren, um für uns in eine Aktualität, in unser Ermessen von Zeit zu gelangen. George Kubler erwähnt die Aktualität und umschreibt sie mit den Zwischenräumen des Leuchtturms, wenn gerade der wegweisende Blitz erlischt, oder mit dem Moment zwischen dem Ticken der Uhr, da die Sekunde noch nicht geschlagen hat, diese Unterbrechung zwischen Vergangenheit und Zukunft, „die Leere zwischen den Ereignissen“ (13), ohne eine Gegenwart erreicht zu haben – drei Jahrzehnte vorher nannte Vladimir Nabokov es „die zwischenzeitliche Pause, da nichts geschieht“. (14) Das ist die Zeit dieser Dinge.
Die Apokryphen bilden ihre eigenen Zwischenräume in der Zeit, den Hiatus. Ricarda Roggan führt die Dinge zu einem Augenblick hin, da sich ihr Geschick von der Bedeutung ihrer Herkunft befreit, ohne ein Ansinnen, als Handschuh die Hand aufzunehmen, als Messer das Brot zu schneiden oder als Uhr die Zeit zu zeigen. Sie setzt wunderbar unsere Betrachtung in eine Möglichkeit der Selbstvergessenheit und gewährt den Dingen ihren dunklen Wunsch, sinnig zu sein, eine Sprache zu finden, um sich vielleicht zu erkennen zu geben.
Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks [1936], Stuttgart 2003, S.9.
Rainer Maria Rilke, „Aufzeichnung über die Kunst“, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 12, Frankfurt am Main 1976, S. 1116 f.
Heidegger 1960 (wie Anm.1), S.39.
Ebd., S.23.
Ebd., S.35.
Ebd., S.36.
Ebd., S.9.
Tanizaki Jun’ichirō, Lob des Schattens [1933], Zürich 2010, S.32.
Georg Simmel, „Der Henkel“, in: ders., Philosophische Kultur, Leipzig 1919, S.116–124, hier 116,121.
Ebd., S. 123–124.
George Kubler, The Shape of Time. Remarks on the History of Things [1962], New Haven and London 2008, S. 17: (Deutsche Übersetzung: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt am Main 1982, S.54) „[…] any work of art is actually a portion of arrested happening, or an emanation of past time. It is a graph of an activity now stilled, but a graph made visible like an astronomical body, by a light that originated with the activity.“ Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich der beeindruckenden, von Wolfgang Scheppe für die Staatliche Kunstsammlungen Dresden kuratierten Ausstellung Die Dinge des Leben / Das Leben der Dinge (26.4.–24.8.2014). Vgl. hierzu Wolfgang Scheppe (Hrsg.), Franco Vimercati. Der Terrinen-Zyklus, 1983–1992, Ausst.-Kat. (Staatliche Kunstsammlungen Dresden), Köln 2014.
Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I,3: Abhandlungen, Frankfurt am Main 1980, S.1166.
Kubler 2008 (wie Anm. 11), S.15: „It is the void between the events.“
Vladimir Nabokov, Einladung zur Enthauptung, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, hrsg. v. Dieter E. Zimmer, Reinbek 1990, S.58.