Seit es Fotografie gibt, ist es Geschichte, an der sie sich abarbeitet. Jeder einzelne Augenblick der angesammelten Zeit liegt im Kontinuum des Gewesenen in sich abgeschlossen, verdeckt von allen nachfolgenden. Es sind immer nur die letzten Aggregatzustände des Zeitlichen, die von den Oberflächen preisgegeben werden. Diese aufgeschichtete Zeit als ganze sprechend, ihre opaken Momente durchscheinend zu machen, ist die Fotografie angetreten. Jedes Foto stellt eine zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vom Objekt abgelöste Schicht dar, und ein jedes bildet die vorläufige Summe aller vorangegangenen Schichten. In räumlich-linearer Abfolge vergegenwärtigen Fotografien, was sich mit dem Objekt in der zeitlich-linearen seiner Existenz zutrug. Dieses, das dokumentarische Vermögen der Fotografie, das Fotografische an sich, weist immer auf ein Einmaliges und Unwiederholbares: das Ephemere. Es ist das eigentliche Paradigma des Fotografischen. Nur als fest-gestelltes überhaupt zu fassen, kann sein Pathos erst im Stand der Dauer den Ewigkeitswert beanspruchen, den die fotografische Absage an Vergänglichkeit suggeriert. Im fotografischen Zeitalter hat prinzipiell alles als ephemer zu gelten, da es virtuell schon als veraltet erscheint. Denn das Altern, der Verfall der Dinge nehmen an Geschwindigkeit mit der sich beschleunigenden historischen Entwicklung zu in einer Zeit, da Revolutionen obsolet geworden sind, weil sie von der revolutionierenden Kraft, welche sie einst provozierte, schon vor ihrem Zustandekommen längst überholt sind. Das Neue hat Neuigkeit allein negativ durch Absetzung vom jüngsten Alten, das so wenig alt ist wie das Neue neu; beide stehen im perpetuierten Jetzt des Nicht-Mehr oder Noch-Nicht: nicht mehr neu oder noch nicht alt. Erfahrung von Zeit wird zunehmend unerträglich in dem Maß, als die von ihren Spuren gezeichneten und wie Fremdkörper in den Leerlauf des Neuen eingeschlossenen Zeugnisse die ausgebliebene Einlösung ihres geschichtlich vermittelten Vermächtnisses noch immer fordernd anmahnen: daß nicht ein einziges vergessen werde.
Dem beizukommen, gibt es zwei Möglichkeiten: die konservatorische Überhöhung der Artefakte im musealen Raum, der selber Geschichte negiert, da er Überzeitlichkeit beansprucht (nichts darf in einem Museum verändert oder benutzt werden), oder die Verwandlung des Überkommenen in Abfall. Die Synthese beider Möglichkeiten vollzieht die Fotografie. Deren gerühmte egalisierende Macht bestehe in der automatischen Gleichbehandlung der Objekte – was zutrifft, solange man vom Autor absieht. Dem fotografischen Automatismus ist, wie der écriture automatique, zunächst alles gleich gültig; und wie den Surrealisten potentiell jedes objet trouvé als Schlüssel der Offenbarung galt, so wird der Fotografie jeder aufgenommene Gegenstand zum per se mit Wert aufgeladenen musealen Objekt (erst die vollständig abfotografierte Welt wäre fotografisch wertlos). Da aber nicht alles fotografiert werden kann (obwohl alles danach drängt, fotografiert zu werden), sondern stets eine Selektion erfolgt, ist zwar vieles berufen, doch nur weniges erwählt. Und so wertvoll oder wertlos die Gegenstände, derer sich die Fotografie annimmt, als solche sind (solange sie noch nicht fotografiert wurden), so ephemer ist der stets ideelle Wert der angefertigten Fotografien selber.
Was aber einer Fotografie Wert verleiht, ist der Modus ihrer Darstellung: das Interesse am Gegenstand, genauer: an dessen Geschichte. Noch der schlichteste Schnappschuß fürs Fotoalbum ist davon gekennzeichnet. Durch die Kamera (und das spätere Foto) hindurch vollzieht sich vermöge der Vermittlung des Fotografen eine Antwort erheischende Hinwendung zum Objekt. Es spricht, weil es zum Sprechen gebracht wurde, und dieses Sprechen erschließt sich über die Pose, die, oft genug als authentizitätswidrig geschmäht, durch das Korsett der sanktionierten Formen ein fein ausdifferenziertes Mienen- und Gestenspiel erzwingt, das, gerade weil es aufs absolute Minimum reduziert ist, sich um so stärker artikuliert. Als Medium steuert die Pose die nonverbale Kommunikation von Fotograf und Objekt genauso wie die zwischen Betrachter und Fotografiertem. Und was für Menschen gilt, gilt nicht weniger für Dinge. Hier wird die Pose durchs Arrangement ersetzt: Der Fotograf tritt in ein Selbstgespräch mit Stuhl, Tisch und Bett. Wenn Fotografie surrealistisch ist, dann hier.
Die Dinge des täglichen Gebrauchs sind von Menschen gemacht worden, und Menschen haben ihre intimsten Handlungen mit ihnen geteilt. Ihre Körper haben sich den Dingen eingeschrieben, wie diese nunmehr als Spurenträger sich dem fotografischen Bild im Medium des Lichts als Spur einschreiben. Die historische Bedeutung dieser Fotografien von Stuhl, Tisch und Bett liegt nicht in den Spezifika ihrer Objekte, sondern in der behutsamen Art ihrer Behandlung: ihrer Entrückung. In den leeren Raum enthoben, sind diese der Verkettung ihres Umfelds ledigen Gegenstände des Behaustseins nun selber der Unbehaustheit anheimgegeben. Wenn Fotografie die Totenmaske der Dinge abnimmt, so sind diese Fotos Hypostasen des zum Tod Verurteilten, das aus dem Zustand des Leidens in einen höheren versetzt wird: den der Verklärung. Gerade weil sie weder musealer Zurichtung zugeführt noch von der Vernichtungsmaschinerie der Fotografie zu bloßen Abzügen ihrer Begrifflichkeiten reduziert werden, kann sich die unmittelbare Anteilnahme an der Phänomenalität der Dinge, an der Erscheinung ihres ausschließlichen Für-Sich-Seins durch die Fläche der fotografischen Schicht hindurch behaupten. Statt unter der Botmäßigkeit des sich zwanghaft seiner Autonomie vergewissernden fotografischen Aktes durch typologisierende Gleichschaltung den Dingen ihre Geschichte abzusprechen, sind sie es selbst, die sprechen – indes die Fotografie wie das klarste Glas den Blick freigibt: ein Schirm, durch den sich etwas zeigt, was für sich steht und gleichwohl nur deswegen für sich stehen kann, weil es fotografiert worden ist.
Denn die Dinge allein schweigen. Die Spuren ihrer Oberflächen geben keine Auskunft über ihre Geschichte; die erstorbene Sprache eines Rokoko-Möbels ist so tot wie die eines aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Wie gut ein Ding sich auch über die Zeit bewahrte – wenn eine Ära zu Ende geht, ist sie bis zu ihren letzten Ausläufern stets als ganze perdu. Über jeder Generation scheint eine neue Sonne, die alles mit ihrem Licht verbrennt, und die überkommenen Artefakte müßten die Nachgeborenen schon nach kurzer Zeit befremden, wenn jene nicht durch die Gegenwart, die nicht mehr die ihre ist, dieser sich immer wieder von neuem anverwandelten: von ihr aufgenommen würden und so ihre Geschichte produzierten, die sich mit jeder Generation weiter fortschreibt. Denn die Zeit geht nicht über sie hinweg, sondern durch sie hindurch. Als Spurenträger sind sie nur mehr sprachlose Zeugen – und was soll ohne Sprache anderes noch bezeugt werden als allein deren Verlust?
In der hellen Kammer aber ist es den Dingen gestattet, ihre Geschichte zur Entfaltung zu bringen, ohne sie preiszugeben – hervorgetrieben durch das Fehlen all dessen, was die Suche nach der verlorenen Zeit ausgemacht hätte. Denn zwar sind sie für immer verloren, doch nicht jetzt, nicht hier, nicht in diesen Bildern. In der semantischen Indifferenz, in der Spannung des Arrangements liegt ihre Vergangenheit verborgen und zutage. Ein undefinierbarer Topf oder Eimer unter einem Tisch irritiert, weil seine Gestalt eine konkrete Möglichkeit, ein einziges So-ist-es-gewesen erzählerisch herauszuheben scheint, jedoch diese Möglichkeit sogleich verwirft: Sie endet in keinem Strang, der zu einem Ende führte; das scheinbar narrative Moment entpuppt sich als Placebo. Eher noch hätte dieses Ding irgendeine allegorische oder symbolische Bedeutung, als eine Geschichte zu erzählen. Die Gesamtheit alles Geschehenen und die Gesamtheit alles noch Möglichen scheint in dem enigmatischen, an eine Wahlurne erinnernden Kasten verschlossen zu liegen – doch auf keine dieser ins auf Dauer gestellte Warten gebundenen Möglichkeiten wird jemals mehr die Wahl fallen. Das Verpaßte und Verlorene ist sowenig wieder aufzufinden wie das Zukünftige zu schauen. – Dies, daß in diesen Bildern Geschichte sich zu erfüllen scheint und dennoch stillsteht und zu keinem Ende kommt – das zugleich ein Anfang wäre –, macht sie im emphatischsten Sinn des unreinen Begriffs zu reinen Fotografien: sich verwirklichend in der eigenen Negation, ganz zurückgetreten hinter die Dinge, versetzen sie diese – theologisch ausgedrückt – in den Stand ihrer Errettung und geben uns eine Ahnung vom Paradies der Dinge, das uns verschlossen bleibt, weil diese unser dort so wenig noch bedürfen wie wir ihrer.